Home - Club der toten Dichter - deutschsprachige - Hans Henny Jahnn - Der gestrandete Wal


 

 

Ulrich Greiner

Der gestrandete Wal

Die politischen und ästhetischen Schriften von Hans Henny Jahnn: ein literarisches Ereignis (1991)

Es ist nicht sicher, ob diese gewaltige Ausgabe der politischen und ästhetischen Schriften die Zahl der Leser von Hans Henny Jahnn erheblich vermehren wird. Die Lesereise durch 2569 Seiten ist ein Abenteuer. Sie kostet Zeit, sie verlangt die Ausdauer, in ein ebenso unwegsames wie erregendes geistiges Gebirge einzudringen, das von den ägyptischen Pyramiden bis zu den skandinavischen Rundkirchen reicht, von der Musik Vincent Lübecks bis zur Schleifenlade im Orgelbau, von der Anatomie Leonardos bis zur Anti-Atom-Bewegung der fünziger Jahre. Wem Jahnn bislang fremd war, dem wird der Mut sinken.

Es ist aber sicher, daß diese Ausgabe zum ersten Mal die Dimension dieses bizarren, genialen Schriftstellers vollständig sichtbar macht. Das ist auch dann ein literarisches Ereignis, wenn es nur wenigen zuteil wird. Dieser Mann, dessen Merkwürdigkeit schon damit beginnt, daß er seine Besonderheit durch das fünffache „n" in seinem Namen betonte (statt ursprünglich Hans Henry Jahn), gleicht einem jener monströsen und geheimnisvollen Findlinge aus heidnischer Zeit, die wir in nordischen Heidelandschaften antreffen. Natürlich kann man ihm aus dem Weg gehen, wie es bislang zumeist geschah.

Hans Henny Jahnn hat sich einmal, 1946 in dem Vortrag Gestrandete Literatur, mit der Frage befaßt, „welche Folgen es hat, daß das Werk großer Dichter, ohne gewirkt zu haben, in die Vergessenheit absinkt". Er hält es für erwiesen, „daß die Wirkung der Literatur auf die Geschicke der Menschheit unerheblich geworden ist". Diese Beobachtung macht er wieder und wieder. Sie erfüllt ihn mit Schrecken, denn er ist davon überzeugt, daß der Menschheit nur durch die Kunst zu helfen sei. Deshalb sagt er in diesem Vortrag: „Meine Furcht ist sehr groß, daß die Werke der Genies inzwischen wie ein Wal sind, der in zu flaches Wasser kam und strandete. Mit Entsetzen schaue ich auf das hilflose Tier, und da es sich nicht rührt, fürchte ich sogar, es ist bereits tot, und wir werden demnächst den Geruch merken."

Die beiden großen Romane, die Höhepunkte seines literarischen Werks, nämlich Perrudja (geschrieben 1922 bis 1929) und Fluß ohne Ufer (1934 bis 1947), sind gestrandete Wale. Aber sie leben noch. Mag sein, daß wir sie eines Tages entdecken. Mag sein, daß wir in Jahnn jemanden finden, der nicht nur verblüffende prognostische Fähigkeiten besaß, sondern auch Fragen stellte, die heute die unsrigen sind. Denn Jahnn, diese schillernde Figur zwischen Archaik und Modernität, stand ähnlich quer zu den Zeiten wie wir, die wir erfahren haben, daß der „Fortschritt" an ein Ende gekommen ist. Nach ihrer ungeheuren Beschleunigung scheint die Geschichte plötzlich still zu stehen. Sie gibt den Blick frei, zurück auf das politische und geistige Feld, auf dem das Jahrhundert begann. Gedanken, die gestern konservativ und überholt schienen, wechseln in der Retrospektive ihre Färbung, und Denkverbote verlieren ihre Kraft. In einer Zeit, da sich die Zeiten ineinanderschieben, verliert der Vorwurf des Anachronismus seinen Sinn.

Zugleich aber ist der Versuch, Jahnn als einen gegenwärtigen und dringend zu lesenden Autor wiederzugewinnen, insofern zum Scheitern verurteilt, als Jahnn, in der Computersprache gesagt, inkompatibel ist. Wer sich in sein Werk versenkt, wird davon ebenso fasziniert wie zurückgestoßen, und wenn man wieder auftaucht, spürt man die Schwierigkeit, von dieser Erfahrung zu berichten. Jahnn polarisiert. Gleichgültig bleibt nur, wer ihn nicht kennt. Je näher man ihm kommt, um so mehr erfährt man auch die Distanz. Er gleicht einem erratischen Block unübersichtlichen Ausmaßes, mitten unter uns gefallen aus einer anderen Welt und einer anderen Zeit. Deshalb gelingt es nicht, ihn politisch einzuordnen. Er war kein Reaktionär, und mit „Blut und Boden", in dessen Nähe er oft gerückt wurde, hat er nichts zu tun. Er war ein Gegner der Nazis. Das zeigt etwa die Rede, die er 1931 auf einer Veranstaltung der linken „radikal-demokratischen Partei" gehalten hat und die mit dem Fazit schloß: „Der Feind steht rechts." Aber er kritisierte auch die Kommunisten. Er hielt den Schutz des Lebens für das höchste Gut, aber er kämpfte gegen den Paragraphen 218. Er äußerte sich gegen die Nazis, als es ihm schadete; und er gab Signale der Anpassung, als es nichts mehr nutzte.

Er war weder schlau noch klug im Sinne von lebenstüchtig. Seine Biographie ist oft von jener „hanebüchenen Unbeholfenheit" geprägt, die sich er selber nachsagte. Daß er querstand zu seiner Zeit, war für Jahnn Programm. 1948 schrieb er, er gehöre zu den am meisten befehdeten Autoren der Gegenwart, „zu jenen, die den Angriffen des Normalmenschen preisgegeben sind, weil sie die Zeit, in der sie leben, nicht als die ihre anerkennen". Dieser Bemerkung entspricht eine andere: „Mein literarisches Schaffen geht von der bedingungslosen Anerkennung der Existenz aus."

Diese Sätze sind ebenso radikal wie hochmütig. Auf der einen Seite die Ablehnung nicht nur von Moral und Konvention, sondern der Zeit, in der er lebt, überhaupt; also Eskapismus als Widerstand. Auf der anderen Seite die „bedingungslose Anerkennung" des Natürlichen, des Kreatürlichen, jenseits der Gesellschaft. Die Natur ist für Jahnn Anfang und Ende. Es geht ihm „um die Erfassung des Lebendigen, das vieldeutig schillert. Das Gute und Böse, als wirksame Prinzipien auf Menschen übertragen, ist mir etwas Fremdes und Kaltes; es fehlt mir der sittliche Maßstab dafür." Die Natur ist der Maßstab, der Mensch eine Fehlentwicklung.

Die Vermessenheit solcher Thesen wird deutlich, wenn man sieht, was Jahnn daraus macht. Er verwirft die Epoche, weil sie das Leben nicht anerkennt, sondern es vernichtet, zuerst durch Formlosigkeit, Häßlichkeit, Leibfeindlichkeit, dann durch Mord und Krieg. Die Vorstellung allein, Menschenleiber (und gar sein eigener) könnten durch Waffengewalt verstümmelt werden, treibt ihn zum radikalen Pazifismus, zur abenteuerlichen Flucht nach Norwegen, wo er mit seinem Freund Gottlieb Harms die Jahre des Ersten Weltkrieges verbringt, um der Einberufung zu entgehen.

Der Widerspruch zu seiner Zeit ist also nicht bloß ausgedacht. Er ist für Jahnn derart existentiell und bedrohlich, daß er schon früh in jenen Welterlösungsphantasien sich ergeht, die später in das utopische Ugrino-Projekt münden und, nach dessen Scheitern, in die Utopie einer Weltherrschaft durch Perrudja, den norwegischen Helden seines Romans, „die Lebensgeschichte eines Mannes, der viele starke Eigenschaften besitzt — eine ausgenommen, ein Held zu sein."

Jahnn gehört zu jenen ungemütlichen Geistern, die nichts weniger wollen als alles. Sein Zugriff ist gewaltig, sein Anspruch zielt auf Omnipotenz, seine Visionen sind grandios. Also ist er ständig vom Scheitern bedroht, von der schieren Lächerlichkeit, von pathetischer Verquastheit. Die Schriften geben Zeugnis davon. Sie zeigen auch das erstaunliche Phänomen, daß sich Jahnns Ideenwelt schon in den allerjüngsten Jahren ausbildet. Er muß geschrieben haben wie ein Besessener. Bis zu seinem 17. Lebensjahr habe er einen Heftestapel von etwa zwei Meter Höhe vollgeschrieben und später verbrannt, bekannte er 1954. Vermutlich ist auch das eine Übertreibung.

Er war ein Mann der Übertreibungen. Fast alles war bei ihm von Anfang an da, bildete sich später nur aus und wurde klarer, gewann schließlich das Sprachvermögen und die Gestaltungskraft der großen Romane. Aber schon in den frühen Texten des gerade Erwachsenen finden sich biblisch-rhapsodische Passagen, in denen die Antriebsenergie seines Denkens deutlich wird. Da ist der hochfahrende Stolz des Einzelgängers: „Mir ist der Sinn gegeben zu träumen, ich kann mich verlieren und alles finden, was die Menschheit verlor, ich kann Wege gehen, die kein Gesetz und keine Moral einzwängt." Da ist der Wunsch, die Geheimnisse des Lebens anzuerkennen, nicht zu beurteilen, sondern sie zu verstehen: „Man hat zu mir gesprochen: Siehe, die Steine sind, und die Tiere sind, und wir sind, und oben am Himmel stehen die Sterne. Wir sind in unserm Leib die Verwirklichung des letzten Gedankens eines Gottes. Ist es an uns, sein Wissen ihm abzuringen? Toren wir, wenn wir dumm und frech genug sind, solches zu wagen."

Und da ist die Anklage gegen die Menschheit: „Eure Pflicht wäre es gewesen, in allem die Weisheit einer Gesetzmäßigkeit zu sehen und an die Schönheit der Dinge zu glauben. Euch aber dürstete nach dem falschen Ehrgeiz einer großen, dekadenten Geste. Ihr wolltet nicht Lust, sondern Kitzel, nicht die Ruhe einer Arbeit, sondern die Überwindung einer Langeweile. Darum mißbrauchtet Ihr die einfachsten Beziehungen von Mensch zu Mensch, von Mensch zu Tier."

Fünfunddreißig Jahre später liest sich dasselbe lakonischer und schärfer: „Der Mensch wird nicht als bekannt vorausgesetzt. Man kennt ihn nicht. Er ist nicht gut. Er ist nicht schlecht. Er ist nichts von dem, was er sich selbst nachsagt. Die Gerüchte über ihn sind falsch. Er ist das Gefäß von Instinkten oder der Schauplatz von Ereignissen, die ohne ihn nicht sein würden. Auch Gott, sein Gott, wird nicht als bekannt vorausgesetzt. Man kennt ihn nicht. Nicht einmal seine Anwesenheit ist vermutbar oder gar beweisbar. Man nimmt die Schöpfung wahr, die vielgestaltig ist; das Sichtbare und das Unsichtbare, die Zeit. Und mitten im Gestalteten und im Ablauf den Schmerz, die Folgen von Fressen und Gefressenwerden, den furchtbaren Schrei des Schmerzes aller Kreatur."

Diese Sätze stehen in einem erzählerisch-essayistischen Fragment von 1953. Es handelt davon, daß Jahnn den Hamburger Hauptbahnhof besucht und sich vorstellt, wie die Szenerie in fünfzig Jahren aussehen wird. Es entsteht eine Art Menschheitspanorama von Werden und Vergehen. Er rechnet sich aus, daß Hamburg in den nächsten fünfzig Jahren, vorausgesetzt, es kommt kein Krieg, den er immer für wahrscheinlich hält, 1200 Trillionen männlicher Samenzellen erzeugt haben wird, „jede einzelne befähigt, das Schicksal als Mensch anzutreten". Schon von Beginn an ist der Tod Bedingung des Lebens. Der Mensch aber verfielfältigt den natürlichen Tod. „Das Eigentum seiner Seele ist der Krieg, der ewige Krieg, der Machtanspruch, die Gewißheit, etwas Besseres zu sein als alles andere Geschaffene und Gewordene. Alleinherrschaft, das ist sein Ziel, und er zertritt alles Lebendige, das nicht seine Gestalt hat. Er ist berufen, die große Zerstörung vorzubereiten."

Dagegen sich aufzulehnen, war ihm ein Gebot von Anfang an. Noch kurz vor seinem Tod fühlt er „den bitteren Geschmack einer unbekömmlichen Erkenntnis", bei der Erinnerung an das Aufbrechen jenes Zwiespalts, der ihn von den „Normalmenschen" trennte. Das ist die Ambivalenz des Jahnnschen Naturbegriffs. Einerseits ist die Natur das Lebendige und das Schöne, das der Mensch vernichtet. Andererseits ist sie selber das Unbegreifliche und das Erschreckende. Mit diesem Widerspruch, den Jahnn keineswegs anerkennt und schon gar nicht „bedingungslos", kämpft er zeit seines Lebens. Er sucht Erlösung, findet sie in einer Doppelstrategie, einer politischen und einer ästhetischen. Die politische reicht vom Ugrino-Projekt der zwanziger Jahre bis zum leidenschaftlichen Engagement gegen die militärische und auch friedliche Nutzung der Atomenergie in den fünfziger Jahren. Die ästhetische besteht in dem Versuch, durch die Kunst Versöhnung mit der Natur zu bewirken.

Beide Strategien sind utopisch. Die Real-Utopie begann mit der Gründung der „Glaubensgemeinde Ugrino", die aus dem Geist der Jugendbewegung entstand. Das Konzept war offenbar eine Mischung aus Kloster und mittelalterlicher Bauhütte. Es sollten Kultstätten und Sakralbauten entstehen. Die Künste, allen voran die Baukunst und die Musik, sollten eine hervorragende Rolle spielen. Jahnn, die treibende Figur des Unternehmens, hat außer einer umständlich ausgearbeiten Verfassung nie ein präzises Programm vorgelegt. In einer frühen Denkschrift von 1924 sagt er, was Ugrino bedeute (ein von ihm erfundenes Wort), sei nicht definierbar.

So argumentiert jeder Guru. Als solcher ist Jahnn offenbar von der bis zu siebzig Mitgliedern umfassenden Gemeinde betrachtet worden. Einige Sätze immerhin aus der Denkschrift zeigen die geistige Richtung: „Es hat nicht jeder das ganze Recht an der Schöpfung", und: „Du sollst den Menschen achten, weil er lebt, Du sollst das Tier achten, weil es lebt, Du sollst den Baum achten, Du sollst den Stein achten, weil er in millionen Kristallen den Geist Gottes erfüllt. Du sollst nicht häßlich machen und verstümmeln. Und zwingt es Dich zur Wildheit, wie ein Tier zu sein, bleib schön! Weh Dir, wenn Du häßlich wirst!"

In einem autobiographischen Text aus dem Jahr 1954 erzählt Jahnn, eine Tante habe, als sie ihn ins Zimmer treten sah, gerufen: „Mein Gott, wie häßlich ist der Junge!" Er empfand dies, wie er schreibt, als einen „Generalangriff gegen meine Existenz". Aus dieser Verletzung entsteht der heiße Wunsch nach einem grandiosen Projekt, in dem die Widerwärtigkeiten einer beschädigten Existenz aufgehoben wären. Jahnn entwirft gewaltige Sakralbauten, Kathedralen der Pietät, Schauplätze künstlerischer Schönheit, Krypten und Grüfte für die Bestattungen der Gemeindemitglieder.

Nichts davon wurde gebaut. Über ein paar Landkäufe in der Lüneburger Heide kam das Projekt nie hinaus. Von Ugrino blieb nur der Musikverlag, der sich mit aufwendigen Editionen von Samuel Scheidt und Dietrich Buxtehude einen Namen machte. Die Ausgabe führt mit zahlreichen Abbildungen die Architekturbeispiele vor, die Jahnn vor Augen hatte, als er seine Theorie der Baukunst niederschrieb. Zornig verwirft er die Gotik als pure Konstruktion. Sie ist „eine ununterbrochene Verfehlung gegen den Geist des Steins". Ihn erschreckt die vermessene Kühnheit des Versuchs, die Erdenschwere zu leugnen und einen filigranen Raum in die Höhe zu treiben. Er weiß: „Wir sind aus den geräumigen Felsenhöhlen gekommen." Deshalb bildet die ideale Architektur Burgen der Geborgenheit aus massivem Stein. In der Hierarchie der Künste steht für Jahnn die Architektur obenan. Er nannte sie einmal „den schmerzlichsten Komplex meiner Neigungen". Der Autodidakt spürte die Mängel seines Wissens, der Visionär die Unmöglichkeit, das Erdachte zu realisieren.

In der Musik, die er ebenfalls hochschätzt, höher als die Literatur, war er glücklicher, als Orgelbauer hatte er sogar einen gewissen, wenn auch umstrittenen Erfolg. Man merkt das den Schriften an. Während die Aufsätze zur Baukunst oft rechthaberisch und pathetisch klingen, gewinnen seine Anmerkungen zur Musik jene freie und emphatische Leichtigkeit, die uns in den Reflexionen des Komponisten Gustav Anias Horn (Fluß ohne Ufer) begegnet. Über eine Komposition Vincent Lübecks (1654 bis 1740) schreibt er: „Nicht genug tun kann sich Lübeck im Verlieren an die köstliche, tierhaft menschliche Primitivität, voll steinhafter Gesetze. Das Pedal beginnt donnernde Oktavenschritte ertönen zu lassen, und in wilder, gottseliger Barbarei erscheinen rhythmisch parallele Akkordschläge, Takte einfältiger Großzügigkeit. Einmal noch wiederholen sie sich, leicht abgewandelt, daß man sich nur nicht an den Gedanken eines billigen Mittels stieße. Dann eine rauschende, erregte Kadenzierung, wie wir sie von Buxtehude kennen, dem Fundament des Werkes entwachsend."

In diesem Aufsatz von 1922 (den er zusammen mit Gottlieb Harms schrieb) sagt Jahnn sinngemäß, die Musik sei zur Sünde nicht imstande, weil sie jenseits eines Ethos liege. In ihr findet er jene Wahrheit, die in der Sprache nicht mehr möglich ist, denn: „Das Wort ist das Unsicherste." Nicht müde wird er zu erklären, wie schlecht er im Deutschunterricht gewesen sei: „Ich war der schlechteste Schüler. Ich beherrschte keine der leichten Regeln der Syntax." Durch die harte Arbeit ständigen Schreibens habe er „die deutsche Sprache soweit in die Hand bekommen, daß ich sie als Ausdruck für die gewundene Art meines Denkens und Empfindens verwenden konnte." Die Werke seiner Jugend habe er „in jener Stunde verbrannt, wo der Entschluß gereift war, die Wahrheit zur Auflehnung und nicht zum Frommsein zu verwenden — wo die Lüge dem Privatgebrauch vorbehalten und die Unerbittlichkeit nach außen gekehrt wurde. In jenen Jahren zerfiel mein Verhältnis zur Dichtkunst." Immerzu müsse er um den Ausdruck ringen, oft tagelang um ein einziges Wort. „So kämpfe ich unablässig heimlich mit den Worten der Übereinkunft, ohne jemals der Überlegene zu werden. Es hilft mir nichts, daß ich in meinem Leben viele tausend Seiten geschrieben habe. Die Mühe wächst mit der Geläufigkeit etwas auszusagen. Die Leser meiner Arbeiten werden schon bemerkt haben, daß mein Stil, meine Darstellung Formen der Umständlichkeit angenommen haben — daß es gedankliche und sogar grammatikalische Entgleisungen darin gibt."

Jahnns Bemühungen um die richtige und aufrichtige Sprache gleichen denen eines Tänzers, der den Flug des Ikarus tanzt. In einigen seiner Aufsätze, vor allem in seinen Romanen hebt er vom Boden ab, erreicht er wirklich Höhe und beginnt einen Gleitflug, wie man ihn nie sah, über alle Schrecknisse hinweg. Umso sichtbarer dann der Absturz, das Zappeln in den Konventionen der Grammatik.

Es könnte fast wie Tragik erscheinen, daß Jahnn jene Künste, die er nicht wirklich beherrscht, so verehrt, und der Literatur, der er sich verschreibt, abgrundtief mißtraut. Aber es ist keine Tragik. Es ist eine negative Selbststilisierung, auf deren Kehrseite der Anspruch auf Größe hervortritt. Beifällig zitiert er Lessings Bemerkung, daß nur die Wahrheit dem Stil echten Glanz verleihe und ohne Stotterei und Posse nicht auskommt. Jahnn wendet sich dagegen, von der Dichtkunst „das Geschliffene, das Präzise, pfiffige Unverbindlichkeit, aber nicht das Notwendige" zu verlangen. „Man hat sich merkwürdigerweise seit jeher der Tatsache widersetzt, daß es kein gültiges Werk der Kunst gibt, das nicht ästhetische Mängel aufzuweisen hätte; es ist, wenn es nicht lügt, mit dem Hauch der wirklichen Wirklichkeit beschmutzt. Die Dichtkunst wird die Wahl haben zwischen Lieblichkeit und Wirklichkeit. Es ist mir freilich unmöglich, zu glauben, daß die Lieblichkeit uns Hilfe gegen den kommenden Krieg bringen kann." Das schreibt er 1947, und er fügt hinzu: „Dichtung wird in Deutschland noch lange Zeit hart, abscheulich, verworren sein müssen."

Daß große Werke oft ästhetische Mängel haben, ist wahr, wenn wir an den kolportagehaften Stil Dostojewskijs denken, an die grotesken Umständlichkeiten Stifters, an die wunderlichen Verhaktheiten Grillparzers, an die Abstürze ins Apokryphe bei Edgar Allan Poe, schließlich an das merkwürdige Versiegen und Verschwinden des Erzählflusses in den großen Fragmenten von Musil und Kafka.

Bei Jahnn, selbst in den „gültigen" Werken, liegen die Mängel auf der Hand. Nicht nur, daß sie Fragment geblieben sind. Sie scheitern an ihrem übergroßen Anspruch. Zugleich aber treibt dieser Anspruch die Romane über ihr Scheitern hinaus in jenes Auge des Orkans, wo die wildbewegten Zerrissenheiten Jahnns zum Stillstand kommen und jene Klarheit herrscht, die der unbekömmlichen Erkenntnis vorhergeht. Diese Erkenntnis lautet, daß die Versöhnung mit der Schöpfung notwendig und zugleich unmöglich. Es sei die Aufgabe der Literatur, die unendliche Summe des Leides zu vermindern, sagt er. In einer blühenden Wiese zu liegen, „wo die Grashalme in den Himmel starren und die ganze Welt ringsum verdecken, sodaß nur das gefaltete und geschattete Grün ringsum bleibt unter einem wolkenlosen Himmel, dessen Farbe mehr und mehr im Grau verschwimmt", das sei in der Jugend einer der schönsten Augenblicke gewesen. „Wir fühlten, daß wir da waren als ein Traum von uns selbst. — Wir haben es nötig, daß uns geholfen werde, damit wir empfinden, daß wir dageblieben sind. Ich glaube, die Kunst vermag das."

Zugleich aber diagnostiziert Jahnn „den Schöpfungsfehler, daß der Terror gegen Unschuldige — Tiere und Menschen — zugelassen wird". 1947 schildert er die Begegnung mit einem hübschen Jungen, dem ein Bein durch ein Bombensplitter fortgerissen worden war. „Eine sittliche Ordnung läßt sich aus den Wirkungen einer Explosion nicht ableiten. Ich rechne das jämmerliche Quaken eines Frosches im Magen einer Schlange, den diese, ihre Kiefer verzerrend, lebend hinuntergewürgt hat, nicht zu den Täuschungen meiner Sinne. Auch nicht den Gesang eines angstlosen Deliriums höre ich heraus — das Lallen inmitten schmerzloser Euphorie. Wohl kann es sein, daß der Tod selbst das stärkste Narkotikum ist, das allem Geschöpf beschieden wird; aber der Todeskampf, der Geruch des Angstschweißes — — — das alles sind Zeichen des unabstellbaren Chaos. Stehen wir nicht einfach nur vor dem Gesetz der Schöpfung und warten, eingelassen zu werden — bis sich die Tür für immer schließt?"

So will er denn (und oft gelingt, oft mißlingt es ihm) das Unmögliche möglich machen: Daß wir da sind als ein Traum von uns selbst, und sei es nur einen Augenblick lang. Dieses Dasein in Sicherheit und Geborgenheit kann auf der blühenden Wiese gelingen (wo die Grashalme die ganze Welt ringsum verdecken), oder in jener phantastischen Felsenburg, die sich Perrudja im norwegischen Hochgebirge errichtet, die architektonische Agoraphobie Jahnns verwirklichend, oder in den musikalischen Gebäuden, die Gustav Anias Horn komponiert.

Vielleicht auch im Schoß einer Frau. Dorthin, in den Schoß der starken und schönen Signe, sehnt sich Perrudja. Aber eigentlich möchte er dort liegen wie ein eben geborenes Kind, nicht wie ein Mann, der Millionen von Samen verschleudern muß, damit einer vielleicht überlebt. Das Werk der Vernichtung soll einmal wenigstens aussetzen, damit Leben spürbar wird ohne die Bedrohung des Todes.

Das ist die große Utopie Hans Henny Jahnns. Eben weil sie so fern aller Realität ist, rennt er dagegen an. Leben über den Tod hinaus zu retten ist das Ziel von Ugrino und seinen Bestattungsritualen. Es ist eines der Themen von Fluß ohne Ufer. Schon am Beginn erscheint das Holzschiff, das dem weiblichen Körper gleicht, als lebendige Verheißung und als Gefäß des Todes zugleich. Den einbalsamierten Leichnam seines Freundes Tutein bestattet Horn in einer Holzkiste, die er neben seinem Schreibtisch verwahrt. Im Epilog erscheint Tutein wieder, als Engel. An Engel hat Jahnn geglaubt, Swedenborg folgend. „Ich weiß, daß es Engel gibt."

Diese Obsession, nämlich der Schöpfung eine Ausnahme abzuverlangen, wie er einmal schreibt, ist der Glutkern seiner Literatur, und alle anderen Dinge, die politischen Reden, die architektonischen Versuche, die musikalischen Übungen und selbst die Orgelbaukunst, wo er wirklich zu Hause war, sind nur nachgelagerte Wärmezonen. Dem keuschen Berserker, dem frommen Heiden Jahnn geht es nur darum, den bitteren Geschmack einer unbekömmlichen Erkenntnis loszuwerden, um nichts anderes, als Gott zu zwingen, endlich menschlich zu sein und der Schöpfung ihren Schrecken zu nehmen. Es ist größenwahnsinnig, und doch ganz bescheiden. Es ist unverständlich, und doch leicht zu verstehen. Es erklärt, weshalb Jahnn uns nie ganz vertraut werden wird und weshalb es sich lohnt, mit ihm Bekanntschaft zu schließen. Er hat dazu einen sehr seltsamen, sehr typischen Satz geschrieben: „Man hat mich nicht soweit verstanden, um mich mißzuverstehen."

Die Herausgeber Uwe Schweikert und Ulrich Bitz haben den Steinbruch der nachgelassenen Schriften durchmessen und zugänglich gemacht. Sie haben das Material sinnvoll geordnet. Einerseits in zwei Zeitabschnitte, in die Jahre 1915 bis 1935 und 1946 bis 1959. Die Lücke erklärt sich aus dem Bornholmer Exil, wo Jahnn fast nichts geschrieben hat außer dem Fluß ohne Ufer. Innerhalb dieser Blöcke sind die Schriften nach Sachgebieten gegliedert. Überschneidungen ließen sich nicht vermeiden: Jahnn hat sich manchmal hemmungslos selber abgeschrieben. Die Texte werden durch Kommentare und Materialien erschlossen. Man findet dort weitreichende Informationen, die fast eine kleine Biographie ergeben. Der Anmerkungsteil umfaßt mehr als 600 Seiten. Man ermißt daran die Leistung der Herausgeber. Fehler sind ihnen naturgemäß unterlaufen. Daß Gryphius ein englischer Dichter sei, nimmt man gerne hin. Bei einem kleinen Komplex im ersten Band ist der Anmerkungsapparat verrutscht, und die Paginierung stimmt nicht. Aber man kommt dem Irrtum auf die Spur und findet sich dann zurecht. Ein Nachteil ist die Gliederung in zwei Bände. Ein dritter Band für den Apparat wäre besser gewesen. Die schweren Brocken sinken einem aus der Hand, und man ist genötigt, bei der Lektüre des ersten Bandes ständig im zweiten nach den Anmerkungen zu blättern. Dieser Mangel verringert nicht das Verdienst des Verlages Hoffmann und Campe, die Hamburger Ausgabe von Hans Henny Jahnn zu riskieren, dieses gewaltige und aufwendige Unternehmen.

Es bleibt aber trotz allem ein Rätsel, weshalb der Verlag sich nicht dazu versteht, jenen nicht wenigen Lesern, die auf Jahnn neugierig sind, durch preiswerte Ausgaben den Zugang zu ermöglichen. Es wäre zum Beispiel denkbar, eine Broschur mit jenen Aufsätzen zusammenzustellen, wo sich Jahnn oft polemisch und leidenschaftlich mit nach wie vor aktuellen Fragen auseinandersetzt: mit der Geburtenkontrolle, mit dem Paragraphen 218, mit der Atomenergie und mit Tierversuchen. Man würde nicht den abschreckend düsteren oder dunklen Jahnn antreffen, sondern den zornigen Zeitgenossen. Der Verlag hat mehrfach erklärt, daß er das nicht will, um den Verkauf der teuren Ausgabe nicht zu schmälern. Eine engstirnige Kalkulation, die den Lesern schadet und dem Verlag nichts bringt.

Hans Henny Jahnn: Schriften zur Kunst, Literatur und Politik. Hamburger Ausgabe, Band 8/1: 1915-1935; Band 8/2: 1946-1959; Verlag Hoffmann und Campe




zum Seitenbeginn

blog comments powered by Disqus