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Ulrich Greiner

Der folgende Beitrag wurde geschrieben für den Katalog der Ausstellung "Doppelleben – Literarische Szenen aus Nachkriegsdeutschland" (Wallstein Verlag 2009). Er versammelt die Gedanken der beiden auf der Jahnn-Seite vorher genannten Beiträge

Versuch über Hans Henny Jahnn

Der Hamburger Orgelbauer, Musikverleger, Dramatiker und Romancier Hans Henny Jahnn (1894 bis 1959) war – zusammen mit Rolf Italiaander, Alfred Mahlau, Hans Erich Nossack und Gustav Oelsner – Gründer der Freien Akademie in Hamburg und 1950 ihr erster Präsident. Die folgenden Notizen unternehmen den Versuch, ihn als Schriftsteller zu würdigen, der über seine Zeit hinaus Rang und Bedeutung hat.

Der Fall Jahnn harrt der Entscheidung. Wenn die literarische Nachwelt die Schiedsrichterin über den Rang eines Werks ist, dann hat sie ihr Urteil noch gar nicht gefällt. Der Bannkreis aus Unkenntnis und Missachtung, der Jahnns Werk umgibt, ist noch immer nicht durchbrochen. Während andere Autoren dieses Ranges längst dem geistigen Erbe zugeschlagen sind und zum Lern- und Lesestoff zählen, ist Hans Henny Jahnn ein Außenseiter geblieben, von einigen verehrt, von einigen angefeindet, von den meisten aber nicht gekannt. Das literarische Werk, vor allem die beiden großen Romane „Perrudja“ und „Fluß ohne Ufer“, gleicht einem unzugänglichen Gebirge. Seine Theaterstücke, etwa „Medea“ oder „Armut, Reichtum, Mensch und Tier“, werden zwar gelegentlich noch gespielt, aber die Inszenierungsversuche sind über Achtungserfolge nie hinausgekommen.

In „Medea“ berichtet Jasons Sohn von seiner ersten Begegnung mit Kreons Tochter. Er reitet auf einer Stute, sie auf einem Hengst. Die Reiterin holt ihn ein. Ehe er sich's versieht, besteigt der Hengst die Stute und bringt den Reiter in die drangvollste Lage. Was in dieser riskanten Szene an Männerängsten und Menschenfantasien drinsteckt, ist sonnenklar. Jahnns Werk ist, obwohl es Schlaumeier dazu verlockt, kein Fall für die Psychoanalyse, weil es auf unschuldige Weise offenkundig ist und allen Triebregungen folgt. Jahnn reduziert den Menschen auf das biologische Material, das Kreatürliche ist die Basis, der geistige Überbau eine Übersteigerung, die den Ruin der Schöpfung bedeutet. Jahnns Werk ist ein Protest gegen das anthropozentrische Weltbild.

Im ersten Teil des Romans „Fluß ohne Ufer“, im „Holzschiff“, ermordet der Leichtmatrose Alfred Tutein Ellena, die Verlobte Gustav Anias Horns. Er stößt ihr das Knie in den Mund und erdrosselt sie. Den Leichnam versteckt er in den Laderäumen der „Lais“. Aus Furcht, der Verwesungsgeruch könnte zur Aufdeckung des Verbrechens führen, übergießt er die Tote mit Holzteer. Es heißt: „Über das Antlitz Teer. Über die Brüste Teer. In den unordentlich bekleideten, aufgedunsenen Schoß Teer. Er behing die Wehrlose mit den groben Fetzen, zog ihr einen weiten Mehlsack über den Oberkörper. Und entleerte den Rest der Kanne über das hingestauchte Bündel aus Sacktuch, Papier und Fleisch.“ Die Tat hat kein Motiv. „Alfred Tutein sagte mit erstickter Stimme, alle Schuld sei plötzlich. Sie eile den frevelhaften Entschlüssen voraus. Gedanken, das sei Traum. Wie kriechende Schnecken. Die handelnden Hände hinterließen das Sichtbare. Er brach verstört ab.“ Nach dem Untergang der „Lais“ finden die Schiffbrüchigen Rettung an Bord eines Frachters. Dort gesteht Tutein sein Verbrechen dem Verlobten Ellenas. In der „Niederschrift“ erinnert sich Horn: „Ich preßte meine Lippen auf seinen willenlosen Mund. Ich spürte das warme fade Fleisch, das sich staunend meinem Kuß öffnete. Ich roch den Angstschweiß des Mörders. Ich taumelte vor Glück.“ Die Moral ist das sekundäre System. Jahnn legt bloß, was darunter liegt. Er folgt der Erkenntnis des Sophokles, dass vieles ungeheuerlich sei, nichts aber ungeheuerlicher als der Mensch. „Fluß ohne Ufer“ ist der 2400 Seiten umfassende, nicht endende Versuch, die Ermordung Ellenas und den Hereinbruch des Bösen zu begreifen.

Im Versuch, den Prozeß des Menschen von unten her zu erkunden und auf das unbestreitbare Faktische zurückzugehen, verweigert Jahnn Sublimation schlechterdings. Der Trieb, die Gier, die Aggression sind unmittelbar. Der Mensch ist Körper zuerst, und dann vielleicht Geist. In Jahnns Werk sind alle Konflikte körperliche Konflikte, alle Erkenntnisse körperliche Erkenntnisse. Das geht sehr weit: Die Wunde, das Loch im Leib, bedeutet die Öffnung des Individuums (des Mannes) für die Welt. Dass Erkenntnis Verletzung sei, hat niemand so radikal verstanden wie Jahnn. Und die innigste Verschmelzung von Alfred Tutein und Gustav Anias Horn ist nicht der homosexuelle Akt, sondern der Blutaustausch, der realiter vollzogen und mit medizinischer Genauigkeit beschrieben wird. Weil der Mensch Leib ist, bietet die Vorstellung, nach dem Tod bleibe die Seele und der Rest verwese, keinen Trost. Tuteins Einbalsamierung gehört zu den peinvollsten und gewaltigsten Kapiteln im „Fluß ohne Ufer“. Rettung könnte allein von der Musik kommen. Die Symphonie, um deren Vollendung Gustav Anias Horn ringt, trägt den Titel „Das Unausweichliche“. Sie ist der Versuch, die Schöpfungstragik Musik werden zu lassen. Ihre Anfänge hat Horn bei seinen Wanderungen über die Klippen der norwegischen Fjorde gefunden, in abgerissenen Birkenrinden, deren feines Engramm eine natürliche Hieroglyphenschrift enthält, die Horn in Notenschrift übersetzt: ein anderes Lied von der Erde, eine Nachbildung des Schöpfungsgesetzes.

„Perrudja“ erschien 1929, im selben Jahr wie Döblins „Berlin Alexanderplatz“. So verschieden Jahnn und Döblin auch sind, an literarischer Kühnheit kommen sie einander gleich. Thomas Manns „Doktor Faustus“, die Geschichte des Komponisten Adrian Leverkühn, erschien 1947. „Fluß ohne Ufer“, geschrieben 1935 bis 1947, erzählt die Geschichte des Komponisten Gustav Anias Horn. „Berlin Alexanderplatz“ und „Doktor Faustus“ gehören zum literarischen Kanon. Jahnns Romane versanken in der Vergessenheit. Neben der unglücklichen Publikationsgeschichte spielt sicherlich Jahnns Verstoß gegen die Gesetze des Erzählens eine Rolle. „Fluß ohne Ufer“ ist nicht nur die Geschichte eines Komponisten. Der Roman selber ist ein symphonisches Werk, gehorcht musikalischen Gesetzen, nicht literarischen. „Das Holzschiff“ ist die Ouvertüre, in der alle Themen anklingen, die in der „Niederschrift“ erst entfaltet und erläutert werden.

Narrative Wahrscheinlichkeit und psychologische Plausibilität interessieren Jahnn nicht. Der Schiffszimmermann Klemens Fitte, den Jahnn ungeheuer plastisch als ungebildeten, vitalen Menschen schildert („dem Rechnen mißtraute um des schlechten Ergebnisses willen, das allüberall zu bemerken war“), erzählt einer staunenden Matrosenschar die Geschichte von Kebad Kenya, der sich bei lebendigem Leib bestatten ließ, einen Text, in dem sich Jahnnsche Phantasmagorien mit ältesten Mythen mischen. Weder ist glaubhaft, ein Klemens Fitte könnte das erzählen, noch, dass die Mannschaft dieser dunklen, gottlosen Legende auch nur eine Minute zuhörte - noch weiß der Leser, was das soll. Erst viel später, getragen vom Fluß ohne Ufer, sieht er das Motiv wiederkehren, in verdeutlichter Form. Das hohe Tempo und die fieberhafte Überreiztheit der Ouvertüre weichen in der „Niederschrift“ einer sich steigernden Retardierung, bis zum wahnwitzigen April-Kapitel, das in Norwegen spielt. Wahnwitzig ist es, weil hier die Mittelachse des Projekts liegt, das Auge das Taifuns, in dem scheinbar alles ruht und selbst die Beziehung zwischen Tutein und Horn suspendiert ist zugunsten grandioser, selbstvergessener Beschreibungen von Landschaft und Mensch, als ob der Autor aus dem Auge verloren hätte, worum es geht - ein Largo larghissimo, in dem die Motive bis zur Unhörbarkeit verklingen. Das muss einer erst mal können: eine solche Langsamkeit, eine solche Pause, die trotz ihrer Länge an Spannung nicht verliert.

Jahnn hat sich 1946 in dem Vortrag „Gestrandete Literatur“ mit der Frage befasst, „welche Folgen es hat, dass das Werk großer Dichter, ohne gewirkt zu haben, in die Vergessenheit absinkt“. Er hält es für erwiesen, „dass die Wirkung der Literatur auf die Geschicke der Menschheit unerheblich geworden ist“. Diese Beobachtung macht er wieder und wieder. Sie erfüllt ihn mit Schrecken, denn er ist davon überzeugt, dass der Menschheit nur durch die Kunst zu helfen sei. Deshalb sagt er in seinem Vortrag: „Meine Furcht ist sehr groß, dass die Werke der Genies inzwischen wie ein Wal sind, der in zu flaches Wasser kam und strandete. Mit Entsetzen schaue ich auf das hilflose Tier, und da es sich nicht rührt, fürchte ich sogar, es ist bereits tot, und wir werden demnächst den Geruch merken.“

Seine Romane und Dramen sind gestrandete Wale. Aber sie leben noch. Mag sein, dass wir sie eines Tages entdecken. Mag sein, dass wir in Jahnn jemanden finden, der nicht nur verblüffende prognostische Fähigkeiten besaß, sondern auch Fragen stellte, die heute die unsrigen sind. Zugleich aber ist der Versuch, ihn als einen gegenwärtigen und dringend zu lesenden Autor wiederzugewinnen, insofern zum Scheitern verurteilt, als Jahnn, in der Computersprache gesagt, inkompatibel ist. Er gleicht einem erratischen Block unübersichtlichen Ausmaßes, mitten unter uns gefallen aus einer anderen Welt und einer anderen Zeit. Deshalb gelingt es nicht, ihn politisch einzuordnen. Er war kein Reaktionär, und mit „Blut und Boden“, in dessen Nähe er oft gerückt wurde, hat er nichts zu tun. Er war ein Gegner der Nazis. Das zeigt etwa die Rede, die er 1931 auf einer Veranstaltung der linken „radikal-demokratischen Partei“ gehalten hat und die mit dem Fazit schloss: „Der Feind steht rechts.“ Aber er kritisierte auch die Kommunisten. Er hielt den Schutz des Lebens für das höchste Gut, aber er kämpfte gegen den Paragraphen 218. Er äußerte sich gegen die Nazis, als es ihm schadete; und er gab Signale der Anpassung, als es nichts mehr nutzte. Er war weder schlau noch klug im Sinne von lebenstüchtig. Sein Leben ist von jener „hanebüchenen Unbeholfenheit“ geprägt, die sich er selber einmal nachsagte.

Dass er querstand zu seiner Zeit, war für Jahnn Programm. 1948 schrieb er, er gehöre zu den am meisten befehdeten Autoren der Gegenwart, „zu jenen, die den Angriffen des Normalmenschen preisgegeben sind, weil sie die Zeit, in der sie leben, nicht als die ihre anerkennen“. Dem entspricht eine andere Bemerkung: „Mein literarisches Schaffen geht von der bedingungslosen Anerkennung der Existenz aus.“ Diese Sätze sind ebenso radikal wie hochmütig. Auf der einen Seite die Ablehnung nicht nur von Moral und Konvention, sondern der Zeit, in der er lebt, überhaupt; also Eskapismus als Widerstand. Auf der anderen Seite die „bedingungslose Anerkennung“ des Natürlichen, des Kreatürlichen, jenseits der Gesellschaft. Die Natur ist für Jahnn Anfang und Ende. Es geht ihm „um die Erfassung des Lebendigen, das vieldeutig schillert. Das Gute und Böse, als wirksame Prinzipien auf Menschen übertragen, ist mir etwas Fremdes und Kaltes; es fehlt mir der sittliche Massstab dafür.“ Die Natur ist der Maßstab, der Mensch eine Fehlentwicklung.

Die Vermessenheit solcher Thesen wird deutlich, wenn man sieht, was Jahnn daraus macht. Er verwirft die Epoche, weil sie das Leben nicht anerkennt, sondern es vernichtet, zuerst durch Formlosigkeit, Hässlichkeit, Leibfeindlichkeit, dann durch Mord und Krieg. Die Vorstellung allein, Menschenleiber könnten durch Waffengewalt verstümmelt werden, treibt ihn zum radikalen Pazifismus, zur abenteuerlichen Flucht nach Norwegen, wo er mit seinem Freund Gottlieb Harms die Jahre des Ersten Weltkrieges verbringt, um der Einberufung zu entgehen. Der Widerspruch zu seiner Zeit ist nicht bloß ausgedacht. Er ist für Jahnn derart existenziell und bedrohlich, dass er schon früh in jene Welterlösungsfantasien flüchtet, die später in das utopische Ugrino-Projekt münden und, nach dessen Scheitern, in die Utopie einer Weltherrschaft durch Perrudja.

Jahnn gehört zu jenen ungemütlichen Geistern, die nichts weniger wollen als alles. Sein Zugriff ist gewaltig, sein Anspruch zielt auf Omnipotenz, seine Visionen sind grandios. Also ist er ständig vom Scheitern bedroht, von der schieren Lächerlichkeit, von pathetischer Verquastheit. Er muss geschrieben haben wie ein Besessener. Bis zu seinem 17. Lebensjahr habe er einen Heftestapel von etwa zwei Meter Höhe vollgeschrieben und später verbrannt, bekannte er 1954. Vermutlich ist auch das eine Übertreibung. Er war ein Mann der Übertreibungen.

Fast alles war bei ihm von Anfang an da, bildete sich später nur aus und wurde klarer, gewann schließlich das Sprachvermögen und die Gestaltungskraft der großen Romane. Aber schon in den frühen Texten des gerade Erwachsenen finden sich biblisch-rhapsodische Passagen, in denen die Antriebsenergie seines Denkens deutlich wird. Da ist der hochfahrende Stolz des Einzelgängers: „Mir ist der Sinn gegeben zu träumen, ich kann mich verlieren und alles finden, was die Menschheit verlor, ich kann Wege gehen, die kein Gesetz und keine Moral einzwängt.“ Und da ist die Anklage gegen die Menschheit: „Eure Pflicht wäre es gewesen, in allem die Weisheit einer Gesetzmässigkeit zu sehen und an die Schönheit der Dinge zu glauben. Euch aber dürstete nach dem falschen Ehrgeiz einer großen, dekadenten Geste.“ Fünfunddreißig Jahre später liest sich dasselbe lakonischer und schärfer: „Der Mensch wird nicht als bekannt vorausgesetzt. Man kennt ihn nicht. Er ist nicht gut. Er ist nicht schlecht. Er ist nichts von dem, was er sich selbst nachsagt. Die Gerüchte über ihn sind falsch. Er ist das Gefäß von Instinkten oder der Schauplatz von Ereignissen, die ohne ihn nicht sein würden. Auch Gott, sein Gott, wird nicht als bekannt vorausgesetzt. Man kennt ihn nicht. Nicht einmal seine Anwesenheit ist vermutbar oder gar beweisbar. Man nimmt die Schöpfung wahr, die vielgestaltig ist; das Sichtbare und das Unsichtbare, die Zeit. Und mitten im Gestalteten und im Ablauf den Schmerz, die Folgen von Fressen und Gefressenwerden, den furchtbaren Schrei des Schmerzes aller Kreatur."

Diese Sätze stehen in einem erzählerisch-essayistischen Fragment von 1953. Es handelt davon, dass Jahnn den Hamburger Hauptbahnhof besucht und sich vorstellt, wie die Szenerie in Zukunft aussehen wird. Es entsteht eine Art Menschheitspanorama von Werden und Vergehen. Er rechnet sich aus, dass Hamburg in den nächsten fünfzig Jahren, vorausgesetzt, es kommt kein Krieg, den er immer für wahrscheinlich hält, 1200 Trillionen männlicher Samenzellen erzeugt haben wird, „jede einzelne befähigt, das Schicksal als Mensch anzutreten“. Schon von Beginn an ist der Tod Bedingung des Lebens. Der Mensch aber vervielfältigt den natürlichen Tod. „Das Eigentum seiner Seele ist der Krieg, der ewige Krieg, der Machtanspruch, die Gewissheit, etwas Besseres zu sein als alles andere Geschaffene und Gewordene. Alleinherrschaft, das ist sein Ziel, und er zertritt alles Lebendige, das nicht seine Gestalt hat. Er ist berufen, die große Zerstörung vorzubereiten.“ Dagegen sich aufzulehnen, war ihm ein Gebot von Anfang an. Noch kurz vor seinem Tod fühlt er „den bitteren Geschmack einer unbekömmlichen Erkenntnis“, bei der Erinnerung an das Aufbrechen jenes Zwiespalts, der ihn von den „Normalmenschen“ trennte.

Das ist die Ambivalenz des Jahnnschen Naturbegriffs. Einerseits ist die Natur das Lebendige und das Schöne, das der Mensch vernichtet. Andererseits ist sie selber das Unbegreifliche und das Erschreckende. Mit diesem Widerspruch kämpft er Zeit seines Lebens. Er sucht Erlösung, findet sie in einer Doppelstrategie, einer politischen und einer ästhetischen. Die politische reicht vom Ugrino-Projekt der zwanziger Jahre bis zum leidenschaftlichen Engagement gegen die militärische und auch friedliche Nutzung der Atomenergie in den fünfziger Jahren. Die ästhetische besteht in dem Versuch, durch die Kunst Versöhnung mit der Natur zu bewirken. Beide Strategien sind utopisch.

Die Real-Utopie begann mit der Gründung der „Glaubensgemeinde Ugrino“, die aus dem Geist der Jugendbewegung entstand. Das Konzept war offenbar eine Mischung aus Kloster und mittelalterlicher Bauhütte. Es sollten Kultstätten und Sakralbauten entstehen. Die Künste, allen voran die Baukunst und die Musik, sollten eine hervorragende Rolle spielen. Jahnn, die treibende Figur des Unternehmens, hat außer einer umständlich ausgearbeiten Verfassung nie ein präzises Programm vorgelegt. In einer frühen Denkschrift von 1924 sagt er, was Ugrino bedeute (ein von ihm erfundenes Wort), sei nicht definierbar. So argumentiert jeder Guru. Als solcher ist Jahnn offenbar von der bis zu siebzig Mitgliedern umfassenden Gemeinde betrachtet worden. Einige Sätze immerhin aus der Denkschrift zeigen die geistige Richtung: „Es hat nicht jeder das ganze Recht an der Schöpfung“, und: „Du sollst den Menschen achten, weil er lebt, Du sollst das Tier achten, weil es lebt, Du sollst den Baum achten, Du sollst den Stein achten, weil er in millionen Kristallen den Geist Gottes erfüllt. Du sollst nicht hässlich machen und verstümmeln. Und zwingt es Dich zur Wildheit, wie ein Tier zu sein, bleib schön! Weh Dir, wenn Du hässlich wirst!“

In einem autobiografischen Text aus dem Jahr 1954 erzählt Jahnn, eine Tante habe, als sie ihn ins Zimmer treten sah, gerufen: „Mein Gott, wie hässlich ist der Junge!“ Er empfand dies als einen „Generalangriff gegen meine Existenz“. Aus dieser Verletzung entsteht der heiße Wunsch nach einem grandiosen Projekt, in dem die Widrigkeiten eines erbärmlichen Lebens aufgehoben wären. Jahnn entwirft gewaltige Sakralbauten, Kathedralen der Pietät, Schauplätze künstlerischer Schönheit, Krypten und Grüfte für die Bestattungen der Gemeindemitglieder. Nichts davon wurde gebaut. Über ein paar Landkäufe in der Lüneburger Heide kam das Projekt nie hinaus. Von Ugrino blieb nur der Musikverlag, der sich mit aufwendigen Editionen von Samuel Scheidt, Vincent Lübeck oder Dietrich Buxtehude einen Namen machte.

In der Hierarchie der Künste steht für Jahnn die Architektur obenan. Er nannte sie einmal „den schmerzlichsten Komplex meiner Neigungen“. Der Autodidakt spürte die Mängel seines Wissens, der Visionär die Unmöglichkeit, das Erdachte zu realisieren. In der Musik, die er ebenfalls hochschätzt, höher als die Literatur, war er glücklicher, als Orgelbauer hatte er sogar einen gewissen, wenn auch umstrittenen Erfolg. Man merkt das den Schriften an. Während die Aufsätze zur Baukunst oft rechthaberisch klingen, gewinnen seine Anmerkungen zur Musik jene freie und emphatische Leichtigkeit, die uns in den Reflexionen des Komponisten Gustav Anias Horn begegnet. In einem Aufsatz von 1922 sagt Jahnn sinngemäß, die Musik sei zur Sünde nicht imstande, weil sie jenseits eines Ethos liege. In ihr findet er jene Wahrheit, die in der Sprache nicht mehr möglich ist, denn: „Das Wort ist das Unsicherste.“ Nicht müde wird er zu erklären, wie schlecht er im Deutschunterricht gewesen sei: „Ich war der schlechteste Schüler. Ich beherrschte keine der leichten Regeln der Syntax.“ Durch die harte Arbeit ständigen Schreibens habe er „die deutsche Sprache soweit in die Hand bekommen, dass ich sie als Ausdruck für die gewundene Art meines Denkens und Empfindens verwenden konnte.“

Es könnte wie Tragik erscheinen, dass Jahnn jene Künste, die er nicht wirklich beherrscht, so verehrt, und der Literatur, der er sich verschreibt, misstraut. Aber es ist keine Tragik, es ist negative Selbststilisierung, auf deren Kehrseite der Anspruch auf Größe hervortritt. Beifällig zitiert er Lessings Bemerkung, dass nur die Wahrheit dem Stil echten Glanz verleihe und ohne Stotterei und Posse nicht auskomme. Jahnn wendet sich dagegen, von der Dichtkunst „das Geschliffene, das Präzise, pfiffige Unverbindlichkeit, aber nicht das Notwendige“ zu verlangen. „Man hat sich merkwürdigerweise seit jeher der Tatsache widersetzt, dass es kein gültiges Werk der Kunst gibt, das nicht ästhetische Mängel aufzuweisen hätte; es ist, wenn es nicht lügt, mit dem Hauch der wirklichen Wirklichkeit beschmutzt. Die Dichtkunst wird die Wahl haben zwischen Lieblichkeit und Wirklichkeit. Es ist mir freilich unmöglich, zu glauben, dass die Lieblichkeit uns Hilfe gegen den kommenden Krieg bringen kann.“ Das schreibt er 1947, und er fügt hinzu: „Dichtung wird in Deutschland noch lange Zeit hart, abscheulich, verworren sein müssen.“

Dass große Werke oft ästhetische Mängel haben, ist wahr, wenn wir an den kolportagehaften Stil Dostojewskis denken, an die grotesken Umständlichkeiten Stifters, an die wunderlichen Verhaktheiten Grillparzers, an die Abstürze ins Apokryphe bei Edgar Allan Poe, schließlich an das merkwürdige Versiegen des Erzählflusses in den Fragmenten von Musil und Kafka. Bei Jahnn liegen die Mängel auf der Hand. Nicht nur, dass die Romane Fragment geblieben sind. Sie scheitern an ihrem übergroßen Anspruch. Zugleich aber treibt dieser Anspruch die Romane über ihr Scheitern hinaus in jenes Auge des Orkans, wo die wildbewegten Zerrissenheiten zum Stillstand kommen und jene Klarheit herrscht, die der unbekömmlichen Erkenntnis vorhergeht. Diese Erkenntnis lautet, dass die Versöhnung mit der Schöpfung notwendig ist und zugleich unmöglich.

Es sei die Aufgabe der Literatur, die unendliche Summe des Leides zu vermindern, sagt er. In einer blühenden Wiese zu liegen, „wo die Grashalme in den Himmel starren und die ganze Welt ringsum verdecken, sodass nur das gefaltete und geschattete Grün ringsum bleibt unter einem wolkenlosen Himmel, dessen Farbe mehr und mehr im Grau verschwimmt“, das sei in der Jugend einer der schönsten Augenblicke gewesen. „Wir fühlten, dass wir da waren als ein Traum von uns selbst.“

Zugleich aber diagnostiziert Jahnn „den Schöpfungsfehler, dass der Terror gegen Unschuldige – Tiere und Menschen – zugelassen wird“. 1947 schildert er die Begegnung mit einem hübschen Jungen, dem ein Bein durch ein Bombensplitter fortgerissen worden war. „Eine sittliche Ordnung lässt sich aus den Wirkungen einer Explosion nicht ableiten. Ich rechne das jämmerliche Quaken eines Frosches im Magen einer Schlange, den diese, ihre Kiefer verzerrend, lebend hinuntergewürgt hat, nicht zu den Täuschungen meiner Sinne. Auch nicht den Gesang eines angstlosen Deliriums höre ich heraus – das Lallen inmitten schmerzloser Euphorie. Wohl kann es sein, dass der Tod selbst das stärkste Narkotikum ist, das allem Geschöpf beschieden wird; aber der Todeskampf, der Geruch des Angstschweißes --- das alles sind Zeichen des unabstellbaren Chaos. Stehen wir nicht einfach nur vor dem Gesetz der Schöpfung und warten, eingelassen zu werden – bis sich die Tür für immer schließt?“

So will er denn das Unmögliche möglich machen: Dass wir da sind als ein Traum von uns selbst, und sei es nur einen Augenblick lang. Dieses Dasein in Sicherheit und Geborgenheit kann auf der blühenden Wiese gelingen (wo die Grashalme die ganze Welt ringsum verdecken), oder in jener fantastischen Felsenburg, die sich Perrudja im norwegischen Hochgebirge errichtet, oder in den musikalischen Gebäuden, die Gustav Anias Horn komponiert. Vielleicht auch im Schoß einer Frau. Dorthin, in den Schoß der starken und schönen Signe, sehnt sich Perrudja. Aber eigentlich möchte er dort liegen wie ein eben geborenes Kind, nicht wie ein Mann, der Millionen von Samen verschleudern muss, damit einer vielleicht überlebt. Das Werk der Vernichtung soll einmal wenigstens aussetzen, damit Leben spürbar wird ohne die Bedrohung des Todes. Das ist die große Utopie Hans Henny Jahnns. Dem keuschen Berserker, dem frommen Heiden geht es nur darum, den bitteren Geschmack einer unbekömmlichen Erkenntnis loszuwerden, um nichts anderes, als Gott zu zwingen, endlich menschlich zu sein und der Schöpfung ihren Schrecken zu nehmen. Es ist größenwahnsinnig, und doch ganz bescheiden. Es ist unverständlich und doch leicht zu verstehen. Es erklärt, weshalb Jahnn uns nie ganz vertraut werden wird und weshalb es sich lohnt, mit ihm Bekanntschaft zu schließen. Er hat dazu einen sehr seltsamen, sehr typischen Satz geschrieben: „Man hat mich nicht soweit verstanden, um mich misszuverstehen.“


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