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Ulrich Greiner

Er flog vor dem Sturm
Hermann Melville: sein Leben in Briefen und Tagebüchern

Im Sommer 1851 saß Nathaniel Hawthorne auf der Veranda seines Hauses in Lenox/Massachusetts und las. "Ein Kavalier zu Pferde kam die Straße herunter und begrüßte mich auf spanisch; ich erwiderte, indem ich an meinen Hut fasste, und las weiter in meiner Zeitung. Aber der Kavalier wiederholte seinen Gruß; ich besah ihn mir genauer und erkannte - Herman Melville!"

Hawthorne fährt in seinen Erinnerungen fort: "Melville und ich hatten ein langes Gespräch - über Zeit und Ewigkeit, die Dinge dieser Welt und der nächsten, über Bücher und Verleger und alle möglichen und unmöglichen Dinge - das bis ziemlich tief in die Nacht dauerte, und um der Wahrheit die Ehre zu geben, rauchten wir unsere Zigarren sogar im heiligen Bezirk des Wohnzimmers. Schließlich erhob er sich, sattelte sein Pferd und ritt nach Hause, und ich beeilte mich, möglichst viel aus der knappen Schlafenszeit herauszuholen, die mir noch blieb."

Melville, fünfzehn Jahre jünger als der damals schon berühmte Hawthorne, feierte an diesem 1. August seinen 32. Geburtstag. Er war vom sechs Meilen entfernten Pittsfield, wo er mit seiner Familie lebte, aufgebrochen, um den verehrten Kollegen zu besuchen.

Im Sommer 1886, also 35 Jahre später, erinnert sich ein Zeitgenosse an Melvilles Besuch in einem Friseurladen: "Ein Einspänner kam mit rasanter Fahrt auf uns zu und hielt vor dem Laden, und nachdem der Fahrer sein Pferd angebunden hatte, kam er herein, um sich seinen Bart trimmen zu lassen, und verkündete, er habe von Gansevoort bis hierher (ungefähr acht oder neun Meilen) nur eine Stunde gebraucht. Er trug einen blauen Zweireiher, der an einen Seemannsmantel erinnerte, und war so um die Siebzig, mit voller Haartracht und einem stark ergrauten Bart, von kräftiger, stattlicher Gestalt; sein Gesicht war tief gebräunt, sein Auge hell und klar, und er hatte eine außergewöhnlich vitale und beeindruckende Ausstrahlung." Der Augenzeuge erzählt dann, wie Melville sich mit einem derben Witz verabschiedet habe.

Wir haben nicht viele Bilder von ihm. Sie zeigen ein ernstes, verschlossenes Gesicht und nähren den Eindruck, den man aus Lebenszeugnissen und Biografien gewinnen kann: Der anfangs mit seinen Südseeromanen erfolgreiche Autor sei mit seinem Moby-Dick (1851) auf Unverständnis gestoßen, habe mit den Romanen Pierre (1853) und Maskeraden (1857) nur noch Hohn und Spott geerntet, habe sich dann von der Schriftstellerei zurückgezogen und fast zwanzig Jahre ein kärgliches Dasein als Zollinspektor im New Yorker Hafen geführt, bis er im Alter von 72 Jahren gestorben sei, verkannt und vergessen.

Das ist nicht falsch, aber nur die Schwarz-Weiß-Kopie eines farbigen, sehr viel reicheren Bildes, das wir nun in dem von Daniel Göske mit bewundernswerter Kompetenz herausgegeben Band Herman Melville - Ein Leben erkennen dürfen. Die chronologisch geordnete Sammlung von Briefen und Tagebüchern, angereichert durch verbindende Kommentare und Dokumente von Zeitzeugen, ist die ideale Biografie. Denn sie verzichtet auf spekulative Deutungen, macht die Lücken und Rätsel kenntlich und zeigt uns das Wichtigste von dem, was über Melvilles Leben positiv gewusst werden kann.

So kann sich nun jeder sein eigenes Bild machen, wobei klar ist, dass jedes Bild unvollständig bleiben muss. Das hat seinen Nebengrund darin, dass viele Briefe von und die meisten an Melville nicht erhalten sind. Der Hauptgrund aber ist, dass Melville, von wenigen und dann wunderbar sprechenden Ausnahmen abgesehen, über sein Inneres keine Auskunft gegeben hat, sei es aus Diskretion, sei es, weil er darüber nicht hinreichend Bescheid wusste. Dieses Bescheidwissen, das unser psychologisch durchtrainiertes Zeitalter sonderbar hoch schätzt, war in Melvilles Epoche noch nicht ausgebildet.

Die Frage, wer er sei, war Melville selbstverständlich nicht egal - sein ganzes Werk ist eine Forschungsreise in eigener Sache; aber, so muss man gleich hinzufügen, diese Sache beschränkte sich nicht auf Introspektion, sondern war für ihn unlösbar verknüpft mit einer unbegrenzten, unerschrockenen Theologie: Was ist Wahrheit? Woher kommt das Böse? Wer ist Gott? Hawthorne hat einmal über Melville bemerkt: "Wäre er ein frommer Mensch, er wäre wirklich und wahrhaftig einer der frömmsten und ehrfürchtigsten."

Am 5. Oktober 1885 schreibt Melville an die Kusine seiner Frau: "Liebe Mrs. Gifford, es ist schon einige Zeit her, dass Sie um ein Foto von mir gebeten haben: - na, hier ist es endlich, das veritable Gesicht Ihres inzwischen venerablen Freundes - venerabel (ehrwürdig, d.Verf.) für seine Jahre. - Warum, zum Teufel, frage ich mich, sieht er nur so ernsthaft drein? Ich hielt ihn immer für ein heiteres, vergnügtes Wesen. Aber ist das überhaupt derselbe Mann? Bitte erklären Sie mir doch diesen Widerspruch, sonst gerät Ihr venerabler Freund bei mir noch in den Verdacht, ein doppelgesichtiger alter Kerl zu sein, dem man nicht trauen darf."

Das Doppelgesichtige bei Melville: Auf der einen Seite sehen wir den feschen Reiter, den Verfasser munterer Briefe; auf der anderen den grüblerischen Gottsucher, der mit dunklen Mächten ringt. Am 26. Januar 1857, da befindet er sich auf eine langen Reise, die von London bis Istanbul, Kairo und Jerusalem führt, kommt er ans Tote Meer und schreibt in sein Tagebuch: "Schaum auf Strand & Kieseln, wie Geifer eines tollen Hundes - stechend bitter vom Wasser - den ganzen Tag bitteren Geschmack im Mund - Bitternis des Lebens - dachte an alles Bittere - Bitter ist's, arm zu sein & bitter, verhöhnt zu werden, und, Oh! bitter sind diese Wasser des Todes."

Dieser Bitternis hat er in seinem Roman Pierre verzweifelten, bis an den Rand der Raserei gehenden literarischen Ausdruck gegeben, und in seiner Erzählung Billy Budd (1889) einen bis zur Weisheit geläuterten. Denn beide, der talentierte, betuchte Gentleman Pierre wie der arme, unbedarfte Leichtmatrose Billy werden das Opfer ihrer Unschuld und ihrer Rechtschaffenheit - Billy durch schieres Sein und argloses Nichtstun, Pierre aber durch durch ein übereiltes, von hoher Moral getriebenes Handeln.

Man begreift, wenn man diesen Band liest, dass Melville nur bis zu einem gewissen Grad Herr seines Schreibens gewesen ist. Er wusste, wenn er in den Dschungel eines neuen Buches eintrat, nicht immer, wo er am Ende herauskam, und oft erging es ihm so, wie es einmal in Mardi (1849) heißt: "Ich wurde von einem unwiderstehlichen Windstoß von meinen Kurs abgebracht. Dieser Anprall, dem ich mich beuge, trifft mich in allzu jungen Jahren, da ich noch unerfahren und schlecht ausgerüstet bin; und dennoch fliege ich vor dem Sturm." Der Schriftsteller Richard Henry Stoddard hat einige Jahre nach Melvilles Tod hellsichtig bemerkt: "Oft hat mich die Frage umgetrieben, ob irgendein Leser Melvilles die eigentliche Triebkraft seines Geistes verstand, ja, ob er sie selber verstand."

Er flog vor dem Sturm, aber er ließ es sich nicht anmerken. Wer seine Bücher aufmerksam las (aber es waren sehr wenige, die das taten), sah den Sturm und sah den Flug, erkannte die nie dagewesene Kraft seiner Sprache und Imagination, verargte ihm das Dunkle und Bizarre nicht.

Doch wenn Melville nicht gerade in einem Buch versunken und lange Zeit nicht ansprechbar war, konnte er liebenswürdig und gesellig sein. Frauen fanden ihn attraktiv. Sophia Hawthorne etwa, die Gattin des Freundes, war beeindruckt von ihm: Er sei, so schrieb sie an ihre Mutter, "äußerst einnehmend & unterhaltsam - ein Mann mit einem warmen, wahrhaftigen Herzen & Seele & Geist - voller Leben bis in die Fingerspitzen. Manchmal weicht seine Lebhaftigkeit einem seltsam stillen Eindruck seiner Augen - einem eingezogenen, verschleierten Blick, der einem gleichzeitig das Gefühl gibt, dass er just in diesem Moment ganz genau wahrnimmt, was vor ihm abläuft. - Es ist ein eigentümlich lässiger Blick, aber mit einer einzigartigen Kraft. - Er scheint dich nicht zu durchdringen, sondern dich ganz in sich aufzunehmen."

Ansonsten bemüht er sich, ein erfolgreicher Schriftsteller zu sein und seine Frau samt vier Kindern zu ernähren. Das misslingt ihm immer mehr. In einem offenherzigen Brief an den Schwiegervater Lemuel Shaw, oberster Richter in Massachusetts, schreibt er schon 1849: "Soweit es mich betrifft, als Individuum & unabhängig vom Geldbeutel, ist es mein ernstliches Verlangen, solche Bücher zu schreiben, die man gemeinhin als ,gescheitert' bezeichnet. - Verzeihen Sie meinen Egoismus." Shaw, der über ein gewisses Vermögen verfügt, verzeiht ihm nicht nur, sondern greift ihm immer wieder finanziell unter die Arme. Aber der Wunsch, Schriftsteller zu sein, legitimierte sich damals allein durch den Verkaufserfolg. Eine Literaturkritik, die eine eigene literarische Öffentlichkeit hätte bilden und Sukkurs durch Stipendien und Preise hätte geben können, war nicht vorhanden. Eine Weile pflegte er freundschaftliche Beziehungen zu dem einflussreichen Kritiker Evert A. Duyckinck. Der aber wollte den Wandel seines Schützlings vom populären Südsee-Erzähler zum philosophischen Desperado nicht mitmachen und ging auf Distanz.

So fühlte sich Melville, der die Literatur im Sturm erobert hatte, immer mehr als ein Mann ohne Publikum und ohne Freunde. Hawthorne schien der letzte, der ihn verstand. An ihn schrieb er 1851: "Mein Lieber Sir, eine Vorahnung liegt auf mir, - am Ende werde ich abgenutzt und verschlissen sein wie eine alte Muskatreibe, völlig zerrieben von der ständigen Abnutzung des Holzes, beziehungsweise der Muskatnuss. Was mich am meisten zu schreiben drängt, das unterliegt dem Bann - es zahlt sich nicht aus. Aber auf jene so ganz andere Weise zu schreiben, das kann ich nicht." Und 1852 schrieb er: "Sollten Sie in diesem Brief Sand finden, so sind's Sandkörner, die beim Schreiben aus meiner Lebensuhr rannen."

Immer wieder hat man das beklemmende Gefühl, dass die Beziehung der beiden ungut asymmetrisch war. Es scheint, als hätte der gesetzte und reservierte Hawthorne den Heißsporn Melville nicht wirklich kennenlernen wollen. 1853 wird er Konsul in Liverpool und notiert nach einem Besuch Melvilles dessen "morbide Gemütsverfassung". Er vermerkt erstaunt, wie wenig Gepäck der Reisende mit sich führt, nur "ein winziges Bündelchen", und fügt hinzu: "Er ist ein in jeder Hinsicht taktvoller und vornehmer Mensch; nur ist er ein wenig unorthodox in Bezug auf saubere Wäsche." Hawthorne gelang es nicht, Melville die erstrebte Sinekure als Konsul zu verschaffen, sei es, weil er sich nicht genug einsetzte, sei es, weil seine Möglichkeiten begrenzt waren. Allerdings gelang ihm das bei anderen Freunden durchaus.

Wie auch immer: Melvilles Briefe an Hawthorne sind die schönsten und intimsten, die er geschrieben hat. Etwa dieser: "Hawthorne, woher kommen Sie? Mit welchem Recht trinken Sie aus meinem Krug des Lebens? Und setz ich ihn an meine Lippen - siehe, da sind's ihre, nicht meine. Ich fühl's: die Gottheit ist zerbrochen wie das Brot beim Abendmahl; wir sind die Stücke." Das ist eine Liebeserklärung, eine Selbstoffenbarung, wie man sie sonst bei Melville nicht findet. Er hat offenbar, wie man so sagt, aus seinem Herzen oftmals eine Mördergrube gemacht. Als sein ältester Sohn Malcolm 1867 tot in seinem Bett aufgefunden wird, mit einer Kugel im Kopf und der Revolver daneben (er bewohnte ein Zimmer in der väterlichen Wohnung in Manhattan, und es ist bis heute unklar, ob er Selbstmord beging oder beim Spiel mit der Waffe sich vertat), äußert sich der Vater in keiner direkt erkennbaren Weise, weder in Briefen oder Tagebüchern noch in seinem Werk.

Auch die zahlreichen Todesfälle, von denen die verzweigte Familie heimgesucht wird, bringen ihn nur zu knappen, wenngleich formvollendeten Kondolenzbriefen. Der zweite Sohn Stanwix stirbt an Tuberkulose, die Tochter Elizabeth erkrankt schwer, und zuvor hat es ein Zerwürfnis mit der Gattin gegeben, die eine Zeitlang erwog, sich von ihm zu trennen. Mehr aber ist nicht gesichert, und das Geraune, Melville sei verrückt gewesen, habe gar seine Frau misshandelt, entbehrt offenbar jeder Grundlage. Man kann sich leicht vorstellen, dass damals ein Familienvater, der sich monatelang in seinem Zimmer einschloss, um an unverständlichen Büchern zu arbeiten, eine schwere Belastung für die Ehefrau und ein klinischer Fall für die Umwelt war. Wahr ist aber, dass Elizabeth Melville zu ihm gestanden und ihn, als ihr ein Erbe zufiel, mit Geld unterstützt hat.

Am Ende seines Lebens deutete sich der Umschwung der Rezeption schon an. Er geschah in England, wo es ein durch die große literarische Tradition gebildetes Publikum gab, das seine Bücher aufgeschlossen und neugierig las. Finanziell nutzte ihm das nichts, da es kein Urheberrechtsabkommen gab, und auch die freundlichen Kritiken erreichten ihn gar nicht oder selten. 1884 aber erhält er den enthusiastischen Brief eines Engländers, der seine Romane als Entdeckung preist und sich darüber beklagt, dass sie so schwer zu kriegen seien. Melville schickt ihm die erbetene Liste seiner Publikationen und fügt lakonisch hinzu: "Für Ihre freundlichen Worte kann ich Ihnen nur meinen Dank aussprechen; ich wünschte wirklich, dass die Bücher, die Sie mit so viel Geduld exhumiert haben, besser verdienten, was Sie von ihnen sagen."

In dieser Bescheidenheitsformel steckt sicherlich auch tiefe Resignation, und wenn man liest, Melville habe werktags seinen Dienst verrichtet und sonntags Rosen gezüchtet, dann gerät einem leicht ein zweiter Bartleby vor Augen, der mit sich und der Welt abgeschlossen hat. Er war aber kein Bartleby, sondern konnte ganz plötzlich im Einspänner und blauen Seemannsmantel beim Friseur auftauchen. Und er hat mit dem Schreiben nie aufgehört. Obwohl er von seinem gewaltigen, auf eigene Rechnung gedruckten Versepos Clarel (1876) nur 110 Exemplare verkaufte, schrieb er weiterhin Gedichte und publizierte sie in Privatdrucken mit verschwindend kleiner Auflage. Noch in seinen letzten Tagen arbeitete er an sein schönsten Erzählung (Billy Budd), die erst 1924 erschien und die Melville-Renaissance einleitete.

Daniel Göske beschließt diesen großartigen Band mit einem der letzten Gedichte:

Oft träumen wir in müßiger Stunde
Von manch einem kühnen, luftigen Plan.
Doch um Form zu geben, Leben zu schaffen,
Muss sich gar Ungleiches paaren und treffen:
Schmelzende Flammen - kühlende Winde;
Bedrückte Geduld - freudige Kraft;
Demut - jedoch auch Hoffart und Stolz;
Fleiß und Instinkt; Liebe und Hass;
Frechheit und Andacht. All das muss verschmelzen
Mit Jakobs Seele in mystischer Brunst,
Um mit dem Engel zu ringen - der Kunst.

Das ist auch ein literarisches Testament und eine Beschreibung seines Schriftstellerdaseins. Heute wissen wir, dass er den Kampf mit dem Engel bestanden hat, aber wir wissen nicht, ob er das wusste.

Herman Melville: Ein Leben. Briefe und Tagebücher. Hrsg. von Daniel Göske, deutsch von Werner Schmitz und Daniel Göske. Hanser Verlag, München 2004


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