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Ulrich Greiner

Ludwig und Bella
Martin Mosebach und sein historischer Roman der Gegenwart Eine lange Nacht

Martin Mosebach ist einer der am besten schreibenden deutschen Autoren. Seine Sprache, seine Bildung sind außergewöhnlich. Er verfügt über die Gabe, Menschen und Szenerien plastisch werden zu lassen, er vermag es, dem Reflexionsraum, den ein Roman braucht, historische Tiefe zu geben, und er beherrscht die Kunst, den erzählten Stoff mit den Farben der Ironie und der Melancholie zu durchwirken. Und doch ist Martin Mosebach, Jahrgang 1951, der wirkliche Durchbruch in die erste Reihe bisher nicht gelungen. Seine teilweise sehr umfangreichen Romane Das Bett (1983), Westend (1992) und Die Türkin (1999) sind zwiespältig aufgenommen worden. Aber selbst da, wo man sie feierte, blieb das Lob seltsam bemüht.

Irgendetwas scheint seinen Büchern zu fehlen. Oder ist es umgekehrt? Haben sie eine Eigenart, die heutigen Lesern eine Lektüre schwer oder unmöglich macht? Wer den neuen Roman, der wiederum fast 600 Seiten umfasst, zu lesen beginnt, den wird nach anfänglicher Bewunderung für die geschmeidige Erzählkunst früher oder später das Gefühl der Langeweile beschleichen, und nur dann, wenn er bis zum Ende durchhält, wird er seine Ausdauer belohnt finden. Er hat sich amüsiert und ist nachdenklich geworden, er hat eine Handvoll Menschen, die ihm anfangs herzlich gleichgültig waren, kennen und lieben gelernt und dabei einiges über sich selber erfahren. Allein das Sterben und der Tod des Vaters ist mit einer so innigen Anteilnahme erzählt, dass es einem nahe geht. Und jetzt erscheint auch Ludwig, der Sohn und Taugenichts, als ein junger Mann, dem man für seinen Aufbruch ins wirkliche Leben alles Gute wünscht.

Warum aber kommt man so schwer in dieses Buch hinein? Die Lektüre eines Romans gleicht immer auch dem Gespräch zweier Personen, des Lesers und des Erzählers. Der Erzähler in Mosebachs Roman hat drei befremdliche Eigenschaften: Er ist dezidiert altmodisch, er wirkt vollkommen abgeklärt, und er scheint einigermaßen desinteressiert an einer bekömmlichen Spannungsdramaturgie.

Zwar spielt die Geschichte in der Gegenwart und mitten in Frankfurt am Main, zwar handelt sie von einem durchs Examen gefallenen Jurastudenten, der durch eine kuriose Kette von Zufällen zum Leiter einer Importfirma aufsteigt, aber dennoch hat man das Gefühl, in einen Bildungsroman des 19. Jahrhunderts geraten zu sein. Mosebach treibt mit diesem literarischen Modell ein virtuoses Spiel. Gegen Ende heißt es: "Auch in Ludwigs Leben hatte es Gewichtiges gegeben. Er hatte sich in Bella verliebt, die Frau eines anderen Mannes, und sie war seine Geliebte geworden. Der Vater war gestorben, ohne dass er Ludwig ein Zeichen gegeben hätte, dass er ihn trotz allen Versagens noch als seinen Sohn liebe. War das nicht ein Stoff für eine ergreifende Erzählung? Ludwig Drais und Bella Lopez als Helden eines Romans von Wolfram von Eschenbach oder Balzac - warum war das eine absurde, ja komische Vorstellung? Besaßen die Verkäufer von pakistanischen Billighemden keinen Anspruch auf ein Schicksal?"

Zwar bezweifelt Mosebach hier den alten Spannungsrealismus eines fortlaufend erzählten Lebensdramas, aber nur, um einen kaum neueren Gegenentwurf hervorzubringen, nämlich die reflexiv gebrochene Erzählhaltung. Sie bezieht sich nicht, wie Rezensenten bemerkt haben, auf Thomas Mann, sondern auf Heimito von Doderer. Dessen Strudlhofstiege (1951) zum Beispiel wirkt, als wäre der Roman in einer anderen Zeit geschrieben worden. Auch Mosebachs Eine lange Nacht könnte, wenn man von den Gegenwartsindizien absieht, vor langer Zeit, als es die beschleunigte Moderne noch nicht gab, verfasst worden sein.

Mosebach hat sich mehrfach zu Doderer bekannt, und in einem Aufsatz, erschienen in Sinn und Form (6/1996), bezeichnet er Doderers Werk als eine besondere Form der Historiografie: "Der Roman als Geschichtsschreibung beschäftigt sich weniger mit der Geschichte in ihrem chronologischen Ablauf als mit dem Stoff, aus dem die Geschichte sich bildet: den Menschen und ihrer Art zu sein, der Luft, die ein Zeitalter atmet, den Geräuschen und Echos, die es verursacht."

Wir haben es also mit einem historischen Roman der Gegenwart zu tun. Daher kommt es, dass das Zeitgefühl des Lesers in Verwirrung gerät; es bricht sich an dem ganz anderen Zeitgefühl des Erzählers, der seine Geschichte ausbreitet, als blicke er aus großer Entfernung und zugleich verständnisinnig auf sie zurück. Daher auch diese Abgeklärtheit, dieses retardierende Verweilen, dieses liebevolle Ausmalen der Interieurs und Seelenlandschaften. So sehen wir das umfangreiche Personal in deutlichem Profil vor uns, aber es wirkt wie die sorgsam ausgeführte Hinterglasmalerei einer früheren Zeit.

Der Reiz dieser Erzählweise entwickelt sich erst ganz allmählich. Szenen und Personen, die zunächst wie überflüssige Abschweifungen wirken, fügen sich zu einem beziehungsreichen Bild. Es berichtet vom Erwachsenwerden eines jungen Mannes, es zeigt, wie wenig die eigene Entscheidung den Lebenslauf bestimmt, wie er sich vielmehr aus unzähligen Einflüssen und Nebenflüssen, aus Stimmungslagen und Wetterlagen bildet. Der Parkettfußboden der neuen Wohnung gewinnt dieselbe Bedeutung wie das Taftkleid der Nachbarin oder ein Sonnenuntergang in der Münchner Straße. Selbst die wunderbar schön und beiläufig erzählte Liebesgeschichte zwischen Bella und Ludwig, selbst der willkommene Unfalltod von Bellas Ehemann sind Teil eines vielfarbigen Gewebes, dessen schlussendliche Form nur der allwissende Autor von Anbeginn kennt.

Der Vergleich mit Doderer jedoch zeigt einen Unterschied: Doderers Romane, die ja, wie Mosebach in seinem Aufsatz bemerkt, in Wahrheit einen einzigen Roman bilden, sind von einem leisen, anhaltenden Zorn, von einem gebändigten Hass auf seine Zeit geprägt. Hass und Zorn scheinen Mosebach fremd, sie tauchen hier nicht auf, es sei denn in der Form milder ironisch-melancholischer Distanz zu Meinungen und Moden. Dieser völlige Mangel an Aggressivität aber ist vielleicht nicht nur eine Tugend. 1 Kor.13 umkehrend, könnte man an die Adresse des Schriftstellers zuspitzen: Wenn ich in allen Sprachen der Menschen und Engel redete, hätte aber den Hass nicht, wäre ich dröhnendes Erz.

Nein, es wäre absurd und außerdem nicht nett, dem Dichter Martin Mosebach seine Kultiviertheit und Menschenfreundlichkeit vorzuwerfen. Da er aber ein kluger Mann ist und außerdem (in den Dimensionen seines Denkens gedacht) noch sehr jung, wird man erwarten dürfen, dass er seine Botschaft eines Tages mit größerer Schärfe und mit härterer Stimme vorträgt, und dann wird man ihn nicht mehr überhören können.

Martin Mosebach: Eine lange Nacht. Roman; Aufbau Verlag, Berlin 2000

Erschienen in der ZEIT


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