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Ulrich Greiner

Nachtigall, Kakadu, Tigerkatze
Martin Mosebach hat den großen Gesellschaftsroman unserer Tage geschrieben: "Was davor geschah"

Eine Episode dieses erotischen, durchaus frivolen Romans geht so: Die Einrichtungsberaterin Helga sitzt mit dem Allround-Unternehmer Salam im Hinterzimmer ihres Ladens, um mit ihm eine Geschäftsidee zu besprechen. Er studiert die Unterlagen, man kommt zu einem vorläufigen Ergebnis. Beim Abschied bewundert er den schönen weißen Kakadu, der auf seiner Stange sitzt. »Ich liebe diesen Kakadu«, sagt Helga und schickt sich an, ihm den Nacken zu kraulen. Der Vogel aber hackt ihr in den Zeigefinger, Blut schießt hervor. »Salam handelte ohne Nachdenken. Er packte Helgas Handgelenk und steckte sich den rot überströmten Finger in den Mund, um alsbald heftig daran zu saugen.« Der Schmerz lässt nach, und Helga bedankt sich. In Salam jedoch, dem eben noch ritterlichen Helfer, erwacht jäh die Begierde. Ehe Helga es begreift, »hatte sie schon seine Zunge im Mund, mit dem deutlichen Geschmack des eigenen Blutes«. Im folgenden Ringkampf wehrt Helga sich heftig, der Ständer mit dem Vogel stürzt um, Salam kommt zu Boden und zur Besinnung.

Man trennt sich verlegen und nicht unfreundlich – mit dem unausgesprochenen Vorsatz, die Peinlichkeit zu vergessen. Sie wirkt dennoch fort, sie gehört zu jenen Umschwüngen des Romans, bei denen die Karten neu gemischt werden. Denn Helga, bewegt von einem unklaren Gemisch aus Empörung und nachträglichem Begehren, erzählt den Vorfall ihrer Freundin Rosemarie, und nun entspinnt sich eine über viele Stationen laufende Intrige, an deren Ende jenes Liebespaar zusammenkommt, dessen intimes Gespräch wir am Anfang belauscht haben: »Wie war das…?« – »Wie war was?« – »Als es mich noch nicht gab.« – »Das war, als ich ein halbes Jahr allein in Frankfurt lebte…« – »Wie war das, als du allein in Frankfurt gelebt hast?« – »Ach, das war nichts Besonderes, das war so…«

Der Roman Was davor geschah erzählt von diesem halben Jahr, und Martin Mosebach setzt ein Karussell der Eitelkeiten und Affären in Gang, in dem wir uns wiedererkennen, so unerbittlich, mit soziologisch analytischem Blick, erfasst er das Milieu. Da ist zunächst die Familie Hopsten, zu deren Partys am Pool der Erzähler eingeladen wird. Hier trifft sich die gehobene Gesellschaft, darunter Schmidt-Flex, der Minister im Ruhestand, ein Wichtigtuer und Besserwisser sondergleichen. An seiner Seite die versteinerte, immerzu stumme Gattin sowie der Sohn Hans-Jörg, eine blasse, missvergnügte Erscheinung mit widriger Ausstrahlung, und dessen junge Frau Silvi, Inbegriff von Anmut und Einfalt. Die beiden scheinen nicht zueinander zu passen.

Im Mittelpunkt der Geselligkeit steht Rosemarie Hopsten, die Dame des Hauses, eine blendende Erscheinung, die ebenso diskret wie entschieden die Auswahl der Gäste bestimmt. Bernward, der Gatte, wirkt neben ihr wie der korrekte, gleichmäßig freundliche Butler. Wer den Erzähler (er ist 35) am meisten fesselt, ist Phoebe, die 18-jährige Tochter. In sie verliebt er sich einigermaßen erfolglos. Die kokette Schöne versammelt einen ganzen Schwarm von Anbetern um sich herum, sodass er nie zum Zuge kommt, lediglich zu einem einzigen Kuss, dem kein weiterer folgt. Als der alte Schmidt-Flex das Werben des Erzählers bemerkt, nimmt er ihn zur Seite: »Er wollte mich mit dem Wissen belasten, dass die kindliche, tänzerische, nervös fahrige Phoebe mit ihrer Haarpracht und den taufrischen Lippen das duftende Schaumkrönchen auf einem Meer von Geld war.«

Das Geld bildet das Lebenselixier all dieser Menschen. Entweder sie haben es (die Alten, um es zu vermehren; die Jungen, um sich fraglos darauf zu betten). Oder sie haben es nicht, wie etwa Helga. »She can’t afford it, sagte Rosemarie mit einer gewissen sachlichen Strenge, die bei aller Sympathie auf Ordnung hält.« Oder wie Salam, halb Libanese, halb Österreicher, Glücksritter und Schürzenjäger. Bei seinen Unternehmungen hat er weniger Erfolg als bei den Frauen, von dem Missgeschick mit Helga abgesehen. Dass der halbseidene Emporkömmling nicht in ihre Kreise passt, hat Rosemarie durchaus bemerkt, aber was kann sie machen? Er ist der Geschäftspartner des gut situierten, aber ewig untüchtigen Hans-Jörg. Dass Rosemarie sich auf eine schmutzige Affäre mit ebendiesem verächtlichen Salam einlässt, gehört zu den Pointen der Geschichte.

Mosebach gilt als ausgesprochen menschenfreundlicher, humorvoller Erzähler, aber das ist nur die Hälfte seiner Kunst. Mit boshafter Akkuratesse schildert er die in ihren selbst gesetzten Zwängen zappelnden Menschen. Wir begegnen hier einem neuen Mosebach. Er schreibt noch eleganter und pointierter als zuvor, aber so durchdringend war sein Forscherblick auf die Spezies noch nie. Man fühlt sich an die französischen Moralisten erinnert, deren philosophische und literarische Texte Skalpellen gleichen, die das menschliche Verhalten wie Muskelstränge freilegen. Ein Nachfahre war der Anfang des Jahres verstorbene große Filmregisseur Eric Rohmer.

Diesem kalten Kalkül entspricht die Versuchsanordnung des Romans. Sie folgt einer abstrakten, spielerischen Logik. Welcher? Mosebach legt eine Spur. Er habe, so sagt der Erzähler zu seiner Geliebten, die ihn ab und zu durch kritische Fragen unterbricht, immer gerne Patience gespielt. Man lege dreizehn Karten offen nebeneinander, darüber eine Reihe von verdeckten und so fort. Wer das oft spiele, könne die umgedrehten Karten meist erraten. Nach diesem Muster ist die Geschichte gebaut. Es gibt dreizehn die Handlung bestimmende Personen; vom Prolog abgesehen, 32 Kapitel (so viel Blatt hat die kleine Patience); vier Paare, die sich neu finden; und es gibt drei Joker. Nummer eins, der Joker der Schönheit, ist die Nachtigall. Ihr lauscht der Erzähler, als er noch fremd in der Stadt ist und in seiner leeren Wohnung sitzt. Unsichtbar singt sie in der Krone einer gewaltigen Kastanie und rührt den Einsamen zutiefst. Auch den Leser, denn Mosebach beschreibt den Gesang mit einer Meisterschaft, die ihresgleichen sucht. Nummer zwei, der Joker des vollkommenen Narzissmus, ist der Kakadu. Immer wieder greift er in die Geschicke der Personen ein. Sein Schrei ist ebenso furchtbar, wie seine Federn wunderbar sind. Nummer drei, der Joker der Freiheit, ist die Tigerkatze, die Silvi eines Tages zuläuft und von der kinderlosen Mädchenfrau liebevoll gepflegt wird. Auch die Katze nimmt Einfluss auf den Gang der Geschichte. Am Ende gewinnt sie den Weg ins Freie, führt ein wildes räuberisches Leben und läuft im Überschwang ihres Selbstgefühls vor ein Auto.

Der Erzählvorgang besteht darin, die Karten nach und nach aufzudecken. Vielfältige Schauplätze ergeben sich daraus, ein Landhaus in Österreich, ein heruntergekommenes Hotel in Kairo, eine Pizzabude in Frankfurt, ein Ferienhaus auf Sizilien. Und die Spielkarten fügen sich zu überraschenden Kombinationen. Dass Bernward und Silvi sich finden, gleicht einem Sommernachtstraum. Dass Hans-Jörg und Helga eine geschäftliche Verbindung eingehen, aus der womöglich noch mehr wird, ist das kleine Glück der Pechvögel. Dass Rosemarie sich mit einer gemeinen Intrige aus der sexuellen Hörigkeit im Dienste Salams befreit, ist eine Verzweiflungstat. Und dass der Erzähler, indem er die letzte Karte aufdeckt, seine Geliebte findet, begründet die ganze Geschichte.

Die Geschichte aber handelt von Zufall und Notwendigkeit. Sind wir Herren unseres Schicksals? In der Mitte des Buchs, nach einer bezaubernden nächtlichen Schlittenfahrt, bei der es ihm gelungen ist, Phoebe zu küssen, überkommt den Erzähler das Gefühl, für einen Augenblick von allen Notwendigkeiten befreit gewesen zu sein, und er gewinnt die Einsicht, man müsse in Wahrheit gar nicht so sein, wie man glaube, sein zu müssen. Vielleicht enthalte das Buch des Fatums viele leere Seiten, die wir mit unserer Lebensschrift in Freiheit füllen könnten? Diese Anwehung geht vorüber, und der Erzähler legt wieder seine frivole Patience, die für ihn glücklich aufgeht. Aber (das ist der philosophische Hintergedanke des Romans): Niemand zwingt uns zur Patience.

Nachdem alle Karten aufgedeckt sind, erweist sich Hans-Jörg als die beeindruckendste Figur, und Mosebach schildert sie mit Wärme. Allen erscheint dieser Missgünstling des Schicksals zunächst erbärmlich, und den Tiefpunkt der Erbärmlichkeit erreicht er während einer Geschäftsreise mit Salam nach Kairo, wo er einem Straßenmädchen folgt, und als er merkt, dass er es mit einem Kind zu tun hat, von einem pädophilen Rausch ergriffen wird. Zu seinem Glück endet die Szene abrupt, weil er fast in die Hände von Straßenräubern gefallen wäre. Wie er mit dieser Scham umgeht, eine Art Selbsterkenntnis gewinnt, die ihn sogar den Weggang Silvis akzeptieren lässt, das hat fast etwas wie Größe, und die feine Psychologie, mit der Mosebach das beschreibt, kommt seinem großen Vorbild Heimito von Doderer ziemlich nahe.

Was davor geschah ist der überzeugendste und subtilste Roman, den Mosebach bisher geschrieben hat. Er ist einer unserer besten Schriftsteller, was kein Geheimnis mehr ist, nachdem er 2007 den Büchnerpreis erhalten hat. Seltsam nur, dass er bei nicht wenigen Lesern Allergien hervorruft. Es sind zweifellos ideologische. Die Essays zeigen ihn als einen Kulturkonservativen, der den Verheißungen von Demokratie und Fortschritt entschieden misstraut. Zweitens kommen ästhetische Vorbehalte hinzu. Mosebach steht in der Tradition einer vormodernen Klassizität. Er folgt einem antiromantischen Impuls, wenn man unter »Romantik« das Ungezügelte, das schrankenlos Solipsistische versteht. Sein Ziel ist nicht das Dunkle, sondern das Helle und Heitere. Dieser Patience-Roman erinnert übrigens an einen anderen Meister der Klarheit, an Italo Calvino, dessen Roman Das Schloss, darin sich Schicksale kreuzen (1978) von einer zufälligen Runde Reisender handelt, die zur Stummheit verzaubert sind und sich ihr Leben anhand von Spielkarten erzählen.

Dass Martin Mosebach unübersehbar schön zu schreiben vermag, führt bei jenen, die einer Ästhetik des Ungekämmten den Vorzug geben, zu der Kritik, seine Bücher hätten mit dem Leben nichts zu tun – als ob die Literatur unserem formlosen Leben umso näher käme, je formloser sie selber sei. Nein, so denkt Mosebach nicht. Er ist ein Formkünstler, was zuallererst dieser Roman beweist, den zu lesen ein intellektuelles und sinnliches Vergnügen ist.

Martin Mosebach: Was davor geschah. Roman; Hanser Verlag, München 2010

Erschienen in der ZEIT


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