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Ulrich Greiner

Laudatio auf Patrick Roth

Die folgende Laudatio wurde am 3. März 2006 in Mainz gehalten. Anlass war die Übergabe des Mainzer Stadtschreiberamtes am Patrick Roth.

Lieber Patrick Roth! Sehr geehrte Damen und Herren!

Es ist mir eine große Ehre, zu Ihnen sprechen zu dürfen, und ich will hinzufügen, dass es mir wahrhaft eine Freude ist: Ich freue mich außerordentlich darüber, dass Patrick Roth diesen Preis erhalten hat, er hat ihn wirklich verdient.

Wer über Patrick Roth redet, kann vom Kino nicht schweigen. Ich kenne keinen größeren Enthusiasten des Kinos als ihn. Er ist der wahre Cineast, und seine Kenntnis der Filmkunst ist geradezu enzyklopädisch. Einmal hatte ich das Vergnügen, ihm in Santa Monica zu begegnen. Er holte mich dort ab, weil wir gemeinsam eine Filmpremiere besuchen wollten. Ich hatte damals noch kinomäßige, also etwas übertriebene Vorstellungen von der Größe und Eleganz amerikanischer Limousinen, und ich gestehe, dass ich ein wenig enttäuscht war, als ich Patrick Roths Auto sah: ein ziemlich betagtes Modell von eher bescheidener Art. Mit dem sind wir dann nach Hollywood gefahren. Es gab in Hollywood und auf dem Weg dorthin keine Straßenecke, keine Fassade, keine Bar, zu der Patrick Roth nicht eine Anekdote eingefallen wäre, eine Filmszene, eine biografische Begebenheit aus dem Leben der Stars und Regisseure – und oft auch eine Geschichte aus seinem eigenen Leben. Sie wissen, er lebt seit rund 30 Jahre in Los Angeles, er hat dort an der USC Film studiert und später bei dem Regisseur Daniel Mann Unterricht genommen. Auch hat er selber Filme gedreht und produziert.

Aber Roths Liebe zum Film beschränkt sich keineswegs auf das handwerkliche Kennertum, sie hat eine tiefere Bedeutung. Sie bildet den Energiepunkt seines literarischen Werks. Das ist insofern offenkundig, als seine Bücher sehr oft die Mythen des Kinos zum Gegenstand haben – ich erinnere nur an seine Erzählung Meine Reise zu Chaplin. Roths Liebe zum Film aber strukturiert seine Prosa auch auf unsichtbare Weise: Die Dialoge, die Beschleunigungs- und Verlangsamungseffekte, die Spannungsdramaturgie: Das alles hat Qualitäten, die ein zukünftiger oder vielleicht schon aktiver Doktorand untersuchen sollte: Er würde herausfinden, dass das Kino die gegenwärtige Literatur nicht bloß um Themen bereichert, sondern auch um Erzählstrategien.

Patrick Roths Werk aber scheint mir noch einen anderen, einen weiteren und dann doch deutschen Ursprung zu haben, nämlich die Romantik. Ich scheue mich nicht, einen Ausdruck bei Friedrich Schlegel zu entleihen und von Transzendentalpoesie zu sprechen. Die Transzendentalpoesie, so Friedrich Schlegel, verknüpft das Reale mit dem Idealen, und sie tut das kritisch – was heißen soll, dass sie das Eine im Anderen spiegelt. Das transzendentalpoetische Moment bei Patrick Roth ist einerseits durch das Kino vermittelt, andererseits durch die Bibel. Das Kino und die Bibel – diese Verbindung ist weniger seltsam, als sie Ihnen erscheinen mag. Darüber will ich im Folgenden etwas nachdenken.

Als Patrick Roth auf unserer Fahrt durch Hollywood mit leuchtenden Augen den Cicerone spielte, tauchte hinter den eher schäbigen Kulissen der Straßen und Häuser plötzlich eine andere Welt auf, eine andere Wirklichkeit. Es war, um aufs Neue einen romantischen Terminus zu verwenden, die Welt der Einbildungskraft. Der Gedanke, dass die Kräfte der Fantasie und des Geistes die Wirklichkeit, in der wir leben, nicht allein verändern und formen, sondern diese Wirklichkeit überhaupt erst herstellen – dieser Gedanke, so scheint mir, ist zentral für das erzählerische Werk von Patrick Roth.

Wer von Roth redet, darf vom Kino nicht schweigen. Erlauben Sie mir also bitte, vom Kino zu reden, genauer gesagt von Ingmar Bergmans Film Wie in einem Spiegel aus dem Jahr 1961. Der Titel bezieht sich auf dem Ersten Korintherbrief. Dort steht der berühmte Satz: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht.“ Der Film spielt auf einer einsamen Insel, wo vier Menschen Ferien machen, ein älterer Schriftsteller, sein halbwüchsiger Sohn, seine Tochter und deren Ehemann. Die junge Frau, dargestellt von der grandiosen Harriet Andersson, leidet offenbar unter geistiger Verwirrung, aber sie ist die einzige, die der Sprachlosigkeit und der verkrampften Hoffnungslosigkeit der anderen entkommt. Was Mediziner Schizophrenie nennen mögen, ist bei ihr nur eine besondere Form der Hellsichtigkeit, vielleicht auch der Dunkelsichtigkeit. In einem leeren Zimmer des nur teilweise bewohnten Hauses kommuniziert sie mit dem Jenseits und hört Stimmen. Ihr Mann, gespielt von Max von Sydow, ruft den Notarzt, und man sieht hinter dem verklärten Gesicht der jungen Frau, die mit Gott spricht, durch das Fenster den landenden Hubschrauber, dessen Rotoren die Stille zerreißen. Da bricht sie zusammen. Gott sei ihr erschienen, stammelt sie, aber dann sei es nur eine grässliche Spinne gewesen.

Als man sie abtransportiert, stehen Vater und Sohn am Fenster und blicken hinaus auf ein Meer, dessen Grau mit dem Grau des Himmels verschmilzt. Der Sohn, noch wie zertrümmert von dem Inzest, zu dem die Schwester ihn kurz davor verführt hat, fragt den Vater nach einem Weg aus der Erbärmlichkeit und Sinnlosigkeit des Lebens, und der Vater, gespielt von Gunnar Björnstrand, der vorher nur stumm oder selbstbezogen und selbstverliebt schien, findet zum ersten Mal die richtigen Worte. Er übersetzt den Korintherbrief in die Gegenwart und sagt: Der einzige Weg ist die Liebe.

Wichtig ist die entscheidende Szene: Die junge Frau blickt auf die leere Wand des leeren Zimmers. An einer Stelle hat sich die Tapete etwas gelöst, es zeigt sich ein Spalt, hinter dem sich etwas zu verbergen scheint. Der Zuschauer indessen sieht nur die schadhafte Tapete, die junge Frau hingegen – das können wir ihrem verklärten Antlitz entnehmen – sieht mehr, sie sieht etwas anderes, das ganz Andere. Sie blickt durch die Wand hindurch wie durch einen Spiegel. Das Dröhnen, das jetzt den Raum erfüllt, ist auch deshalb so gewaltig, weil der Film bis dahin weitgehend still, fast stumm gewesen ist. Bei der Musik, die nur selten zu hören ist, handelt es sich um Cello-Suiten von Bach. Dieses Dröhnen kommt wie aus einer anderen Welt, und es ist gut möglich, dass die junge Frau etwas von dem erfährt, was Paulus den Korinthern voraussagt: Sie hat eine Begegnung von Angesicht zu Angesicht. Eine Begegnung mit Gott? Wir wissen es nicht, denn wir, die Zuschauer erleben nun einen Bildwechsel: Die Kamera richtet ihren Blick auf das Fenster, und wir erkennen den eben landenden Hubschrauber. Er landet hinter dem Rücken der jungen Frau, sie kann ihn nicht sehen. Er kommt in der Tat vom Himmel, aber es handelt sich zweifellos nicht um Gott. Die naheliegende Interpretation wäre, dass die Frau leider ein Opfer ihrer verwirrten Sinne geworden ist. Eine andere Deutung würde sagen: Wir haben es hier mit zwei Wirklichkeiten zu tun, die beide nebeneinander bestehen. Jede hat ihre Gültigkeit.

Eine der wunderbarsten Erzählungen von Patrick Roth ist Magdalena am Grab, erschienen 2002. Sie ist wahrhaft unheimlich und geheimnisvoll. Die zentrale Szene spielt in einem leeren Haus am Mullholland Drive. Das ist eine der schönsten Straßen von Los Angeles. Sie verläuft in zahlreichen Windungen auf dem Kamm der Santa Monica Mountains. Sie kennen die Straße vielleicht aus eigener Anschauung oder aus dem gleichnamigen Film von David Lynch. Das Haus ist leer, weil es zum Verkauf steht. Der Ich-Erzähler ist dort mit einer jungen Frau verabredet, um mit ihr eine Filmszene zu proben. Beide sind sie Filmstudenten, und die Szene, die sie einstudieren wollen, ist jene, die Johannes im 20. Kapitel erzählt: Maria Magdalena am Grab. Der Erzähler kennt seine Kommilitonin kaum, sie ist erst kürzlich in die Klasse gekommen, aber sie ist offenbar sehr hübsch und sie fasziniert ihn. Er weiß von ihr lediglich, dass sie am Mullholland Drive wohnt und dass sie verheiratet ist. Mit einem Filmproduzenten, so nimmt er an, denn dies ist das Quartier der Reichen. Die anderen Mitspieler sind aus unklaren Gründen nicht gekommen oder haben sich verspätet, jedenfalls sind die beiden allein in diesem großen, leeren Wohnzimmer, dessen Fensterfront auf das Lichtermeer von Los Angeles geht.

Das Haus liegt am Hang, so dass man den hohen Raum von einer Galerie aus betritt. Er ist völlig dunkel, erleuchtet nur von einer Stehlampe, die das Mädchen irgendwo gefunden hat. Sie stellen nun die Grabesszene nach. In diesem Miteinanderreden und Miteinanderagieren entsteht eine Intimität, eine Spannung, die auf den Erzähler zunehmend erotisch wirkt. Das allerdings ist ein Missverständnis, es geht um etwas anderes.

Ich muss Ihnen die Szene verdeutlichen: Maria Magdalena kommt zum Grab, von dem schon Petrus erzählt hat, es sei leer. Sie findet es in der Tat leer, und sie weint. Da sieht sie zwei Engel, die fragen: „Warum weinst du?“ Ihre Antwort: „Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben.“ Irgendetwas, vielleicht ein Geräusch, veranlasst sie, sich umzudrehen, und sie sieht einen Mann am Eingang der Höhle, der sie fragt: „Wen suchst du?“ Sie glaubt, es sei der Friedhofsgärtner, und sie antwortet: „Wenn du ihn weggetragen hast, so sag mir, wo du ihn hingelegt hast.“ Im Fortgang der biblischen Erzählung wird klar, dass es sich um den auferstandenen Jesus handelt.

Die beiden Filmstudenten nun spielen diese Szene nach, wobei der Erzähler mit dem Rücken zur Galerie steht. Indem das Mädchen sich umwendet und in Richtung des Erzählers geht, der jetzt die Stelle des Gärtners einnimmt, hält sie plötzlich inne und fängt zu zittern an. Sie sinkt auf die Knie. Er erschrickt, geht zu ihr hin, legt seinen Arm um sie. Sie aber beugt sich zum Boden, nimmt das Textmanuskript, schreibt etwas an den Rand und schiebt es ihm zu. Er liest den Satz: „Er ist hier, er beobachtet uns, Vorsicht!“

Der Erzähler muss glauben, es handele sich um den eifersüchtigen Ehemann. Er erschrickt, er kann die dunkle Galerie in seinem Rücken nicht sehen. Angesteckt von ihrer offensichtlichen Furcht fürchtet er sich ebenfalls. Der einzig mögliche Ausweg, den unsichtbaren und bedrohlichen Beobachter zu besänftigen, besteht darin, die Szene zu Ende zu spielen, damit klar ist: Es handelt sich um eine Arbeitssituation, nicht um einen Seitensprung. Indem die beiden unter Beobachtung angstvoll weiterspielen, wird ihnen plötzlich eine verborgene Bedeutung des biblischen Textes klar. Worum es da geht, will ich Ihnen nicht im Detail schildern, Sie müssen die Erzählung selber lesen.

Der Punkt ist, dass hier die Wendung des Paulus „von Angesicht zu Angesicht“ eine in die Gegenwart übersetzte dramatische Aktualisierung erfährt. Das Mädchen – ganz ähnlich wie die junge Frau in Bergmans Film – sieht etwas, was der Erzähler nicht sehen kann, sie hat eine zweite Ebene entdeckt, eine zweite Wirklichkeit, die plötzlich Gewalt gewinnt über die erste, die scheinbar alltägliche Wirklichkeit. Besser gesagt: Diese zweite, eigentliche Wirklichkeit gewinnt Gewalt über das Mädchen. Bis zum Schluss bleibt offen, ob es den eifersüchtigen Ehemann auf der Galerie wirklich gegeben hat – ob da überhaupt jemand war oder ein ganz anderer. Ebenso bleibt offen, wer dieses Mädchen eigentlich ist. Denn der Erzähler hat sie nach diesem Abend nie mehr gesehen, sie taucht in der Klasse nicht wieder auf, er besitzt keine Anschrift und keine Telefonnummer.

Natürlich ist man versucht, diese Geschichte in eine religiöse Bedeutung hinein aufzulösen, und das wäre vermutlich kein Fehler. Aber das ist Sache des Lesers. Denn Patrick Roth, und das macht einen großen Reiz seiner Prosa aus, bleibt in der Hauptsache ganz im Rahmen des Plausiblen, des real Nachvollziehbaren. Die Geschichte tut so, als wäre sie nicht erfunden. Vielleicht ist sie auch gar nicht erfunden, sondern wirklich so passiert.

Aber was heißt wirklich? Normalerweise glauben wir zu wissen, was das ist. Aber bei Patrick Roth kann man lernen, dass es vielerlei Wirklichkeiten gibt. In seinem Erzählungsband Die Nacht der Zeitlosen gerät der Erzähler auf irgendeine Party und begegnet dort einer jungen Frau, die hellblaue Abendhandschuhe trägt. Er erfährt, dass sie als Statistin gearbeitet hat, in Oliver Stones Film über die Ermordung Kennedys. Im gemeinsamen Gespräch (die Frau und der Erzähler hocken auf einem Bordstein unweit der Party, eine Situation, die nur im sonnigen, trockenen Kalifornien vorstellbar ist) – in diesem Gespräch schält sich die folgende Geschichte heraus, die nun auch erklärt, weshalb sie Handschuhe trägt, wenig passend zu ihren Jeans und ihrem T-Shirt.

Es handelt sich um die Dreharbeiten zu Oliver Stones Film: Die Frau sitzt als Jackie Kennedy in dem Wagen, der von dem unbekannten Schützen unter Feuer genommen wird, neben sich eine präparierte Puppe, in der kleine Sprengladungen und Säcke mit künstlichem Blut verborgen sind. Im entscheidenden Augenblick soll die Puppe blutüberströmt in sich zusammensinken, so wie Kennedy in Wirklichkeit. Die Statistin aber wartet nicht ab, sondern reißt im falschen, also im richtigen Augenblick die Puppe, die in diesem Augenblick Kennedy ist, nach unten – weg aus der Schussbahn, und rettet ihn so vor dem Tod. So wie ihn Jackie gerettet hätte, wenn sie von den drohenden Schüssen gewusst hätte. In diesem, jetzt wirklich falschen Augenblick gehen die Sprengladungen los, und die Statistin, überströmt vom künstlichen Blut ebenso wie von ihrem eigenen, trägt an den Händen bleibende Verletzungen davon. Deshalb die Handschuhe.

Der Erzähler fragt, warum sie das getan habe, ob sie sich damals wirklich als Jackie Kennedy gefühlt habe. Sie antwortet: „Eben nicht. Jackie Kennedy hat damals nicht gewusst, dass Schüsse fallen würden. Ich sah den Brückentunnel nicht allzuweit vor uns und dachte noch: Wie wirklich heiß es heute ist, und dass es nicht die Filmlampen sind, die diese Hitze erzeugen, sondern dieselbe Sonne, die damals, 27 Jahre zuvor, auch auf Dealey Plaza in Dallas fiel und den Lincoln, in dem wir saßen, beschien. Und mir fiel ein, dass Jackie später sagte, sie habe, als sie die Limousine auf eine Brücke zufahren sah, noch gedacht, damals gedacht: Dort im Schatten der Brücke wird es kühler werden. Und da, als ich das dachte, mischte sich, so unglaublich schmerzhaft, dass es mir fast die Sinne raubte, das Vorwissen ein, dass er jetzt jeden Augenblick sterben würde und dass ich die einmalige Chance hätte, was geschehen war, zu verhindern.“

Die Vergangenheit gewinnt Macht über die Gegenwart, die verflossene Zeit hat keine geringere Bedeutung als die gegenwärtige. Die echte, die wirkliche Zeit ist nicht gebunden an Tag, Jahr und Uhrzeit. Wieder also haben wir es mit zwei ineinander übergehenden Wirklichkeiten zu tun. Mit Schlegel zu sprechen: Das Ideale hebt das Reale auf, schließt es in sich ein, überhöht es. Und weitergedacht: Die Einbildungskraft vermag es, die Zeitachse umzukehren.

Das ist die eine Seite. Die andere aber erinnert unübersehbar an die christliche Botschaft: Die junge Statistin gibt sich selber zum Opfer hin, und dieses Opfer soll die vergangene Untat sühnen und ungeschehen machen. In dieser zeitlosen Sekunde passiert das auch, es passiert für einen hellen, überzeitlichen Augenblick. Danach trägt sie die Wundmale an den Händen, und geändert hat sich nichts. Oder vielleicht doch? Wir wissen es nicht, aber wir erfahren, dass es verschiedene Kausalitäten gibt.

Christliche Fundamentalisten könnten solche Anspielung, solche Weiterspielung der biblischen Verheißung für blasphemisch halten. Heutzutage muss man ja mit allem rechnen. Aber es handelt sich nicht um Blasphemie, sondern um ein Ernstnehmen dessen, was in den Evangelien gesagt ist. Dieses Motiv zieht sich zwar durch das gesamte Werk von Patrick Roth hindurch, natürlich vor allem durch die Romane der so genannten Christus-Trilogie, aber es wäre ein Fehler, in Patrick Roth einen Kurier des Papstes erblicken zu wollen, in ihm also einen Schriftsteller zu sehen, der katholische Dogmen bebildert. Ich vermute, dass manche das gerne hätten, aber ich erinnere an meine Bemerkung, Roths transzendentalpoetisches Projekt speise sich aus der Bibel und aus dem Kino. Und das Kino, vor allem Hollywood, ist nun wahrlich kein Ort der Rechtgläubigkeit.

Wahr ist allerdings, dass die transzendentale Bewegung bei Patrick Roth zumeist im Positiven endet. Selbst da, wo der Tod das zentrale Motiv bildet (und das geschieht ziemlich oft), behält er nicht das letzte Wort, sondern das Licht eine anderen Welt hebt seine Endgültigkeit auf. In der gegenwärtigen Literatur gibt es dafür nur wenige Beispiele, mir fällt eigentlich nur Peter Handke ein. Sie wissen: Es ist das Signum der Moderne, dass die Literatur sich für den Trost nicht mehr zuständig hält. Insofern muss man die Prosa Patrick Roths vormodern zu nennen. Das aber ist wohlgemerkt keine Wertung, sondern nur ein Beschreibungsversuch.

Friedrich von Hardenberg, besser bekannt unter dem Namen Novális, den mein Frankfurter Germanistik-Professor immer Nóvalis nannte – Novális oder Nóvalis also, der mit Friedrich Schlegel einiges zu tun hatte, bemerkt in seinen Blüthenstaub-Fragmenten: „Wir suchen überall das Unbedingte und finden immerzu nur Dinge.“ Patrick Roth sucht das Unbedingte in den Dingen, darin sehe ich das Ziel seines Schreibens. Und seine Mittel sind eminent literarische, in der romantischen Tradition stehende Mittel. Zu denen gehört nicht allein das professionelle Handwerk, etwa die minutiös kalkulierte Ökonomie der Beschleunigung und Verlangsamung, der durchdachte Wechsel verschiedener sprachlicher Ebenen und Tonlagen, sondern vor allem die aufs Transzendentale ziehlende erzählerische Bewegung.

Zum Beweis dessen zitiere ich als letztes Beispiel eine Passage aus dem faszinierenden Prosaband Starlite Terrace, erschienen 2004. Dort gibt es die Geschichte eines Mannes, der aus plausiblen Gründen in die Versuchung eines Auftragsmordes gebracht wird. Der Mann besorgt sich die geforderte Summe und schickt sich an, den Verbindungsmann zum verabredeten Zeitpunkt am verabredeten Ort zu treffen. Auf dem Weg dorthin ereignet sich, was der Mann so erzählt:

„Die Verabredung war auf eins. Und gegen halb ging ich los. Musste mich beeilen. Nahm ein Taxi. Zunächst ging es zügig. Aber dann, natürlich, ein Stau. Ich zahle, steige aus, laufe die Strecke. Es war nicht mehr weit, wusste ich. Wäre hinter der nächsten Ecke. Komme an einer Bank vorbei – sehe mich dort im Fenster gespiegelt: zielstrebig, sinatramäßig, die Hand in der Hosentasche. Und – fiel mir auf – vollkommen verrückt. Die große Glasscheibe spiegelte gerade genug, das Licht stand gerade richtig, dass ich das sehen konnte. Und ich hielt. Hielt an. Sah mich im gläsernen Meer. Sah meine Augen … erkannte nichts wieder. Als starre ein anderer auf mich zurück.“ Fast überflüssig zu erwähnen, dass der Mann von seinem Vorhaben Abstand nimmt. Eine andere Zeit, eine andere Wirklichkeit ist ihm begegnet, in unerwarteter Plötzlichkeit. Er nimmt sie wahr, er hat ein Auge dafür. Es verändert ihn – und es verändert sein Leben.

Für diese transzendentalen Momente aufmerksam zu sein, aufmerksam zu sein für die Offenbarungen, die auch das scheinbar Profane für uns bereit hält: das ist das mentale und emotionale Training, das Patrick Roth uns nahelegt, das ist der Gewinn, mit dem uns seine Prosa beglückt – egal, ob wir an die Bibel glauben oder an das Kino oder an beides. Und damit steht Patrick Roth in einer großen Tradition, denn das Wesen der Literatur besteht eben darin, uns, die Leser, mit der Vielfalt möglicher Wirklichkeiten zu konfrontieren. Es gibt ja nie nur eine einzige Wirklichkeit. Es gibt die des Alltags und der Wissenschaft ebenso wie die des Traums und der Sehnsucht, die des Mythos und der Religion. In der Literatur können alle diese Wirklichkeiten nebeneinander bestehen, und sie sind gegeneinander durchlässig. In gewisser Weise ist die Literatur immer auch transzendentalpoetisch, sie zaubert uns weg in eine andere Welt. Von diesem Zauber ist Patrick Roths Prosa gänzlich erfüllt, und er erfüllt auch uns, seine Leser.

Dafür gebührt ihm höchste Anerkennung. Ich gratuliere also der Jury zu ihrer trefflichen Wahl. Ich gratuliere Patrick zu dieser Auszeichnung. Und ich hoffe, dass sie es ihm ermöglicht, sich nunmehr ein wirklich amerikanisches Auto anzuschaffen. Ich fürchte allerdings, dass die Preissumme meinen diesbezüglichen Hoffnungen nicht ganz gerecht wird, und ich rege deshalb an, die Dotierung zu erhöhen.



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