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Eckhard Nordhofen

Die Magdalenensekunde

Warum dreht sich die einstige Sünderin an Jesu Grab zweimal um? Weil Christus, den sie kannte, nun der Herr der Welten ist. Zu Patrick Roths Erzählung "Magdalena am Grab"

Präsenz Gottes im Menschenfleisch, der Mensch als ein Gottesmedium: Das ist die Botschaft von Weihnachten. Aber mit dem ganzen Christentum wäre es nichts, wenn es keine Antwort auf die Sterblichkeit dieses Fleisches geben könnte. Die Antwort gibt Ostern, das die Wirklichkeit des Fleisches durch eine größere Realität einrahmt. Was ist es, das uns überdauern kann? Sind es "geistige Realitäten", die Seele oder die Erinnerung an eine Lehre? Für die materialistische Moderne ist das Geistige eine zweite Realität: Das Sein bestimmt das Bewußtsein. Johannes, der Evangelist der Inkarnation, verkündet die Einheit von Geist und Fleisch. Aber die Auferstehung des Fleisches ist nicht die Rückkehr in die alten Koordinaten.

Der deutsche Schriftsteller Patrick Roth hat im Johannesevangelium eine bemerkenswerte Ungereimtheit entdeckt. Er erzählt, verpackt in die Novelle Magdalena am Grab, wie er eine solche Entdeckung gemacht hat. Das Ganze spielt vor zwanzig Jahren in Los Angeles, im Weichbild von Hollywood, am Mullholland Drive, wo sich der Cineast Roth als Schauspieler und Drehbuchautor ausbilden läßt. In der Schauspielschule sind Verrücktheiten erlaubt, niemand lacht, als sich Roth bei seiner Fingerübung in der Kunst des Dramatisierens auf den Ostermorgen kapriziert, genau so, wie ihn der Text des Evangelisten Johannes schildert.

Petrus und "der Jünger, den Jesus liebte", waren um die Wette zum Grab gelaufen. Im Johannesevangelium ist natürlich Johannes der Gewinner des Wettlaufs, der erste nach Maria aus Magdala, der Entdeckerin, der ersten Zeugin. Maria Magdalena hatte es noch in der morgendlichen Dunkelheit dorthin gezogen. Sie entdeckt, daß der Stein weg war, der die Kammer verschlossen hatte, läuft mit der Nachricht zu den beiden. Petrus und Johannes rennen zum Grab, gehen hinein, sehen die zusammengeworfenen Leichentücher, und wieder ist es der "andere Jünger", von dem es heißt: "Er sah und glaubte." An dieser Stelle setzt die Regiearbeit des Ich-Er­zählers ein. Es geht um die Szene, die nun folgt: Maria Magdalena ist noch einmal zurückgekehrt. Jetzt steht sie alleine am Grab. Sie weint.

Patrick Roth organisiert die Ereignisse auf mehreren Ebenen, blendet die Zeiten übereinander. Das Mädchen, das die Rolle der Magdalena übernimmt, ist von Rätseln umwittert, Monica, eine schöne Italienerin, die ihre Adresse nicht rausrückt, hinter der der Ich-Erzähler herfährt und deren geheimnisvoller Hintergrund für Spannung sorgt. Diese Monica Esposito spielt die Maria aus Magdala, und als Magdalena macht sie eine Entdeckung. In ihrer Rolle entdeckt sie die verborgene Pointe des Textes. Sie entdeckt die Entdeckung von Ostern. Magdalena, so steht es im Text, dreht sich um - und zwar einmal zuviel. Warum muß sich Maria Magdalena zweimal umdrehen?

Es handelt sich um eine der anrührendsten und zartesten Szenen im Neuen Testament. Die Frau, die Jesus auch im Tod nicht verlassen hat, kennen wir gut von tausend Bildern aus zwanzig Jahrhunderten: wie sie mit Johannes und Maria, der Mutter, unter dem Kreuz steht und weint, die Frau, die Jesus ins Sterben hinein begleitet hat, bei ihm geblieben war, vielleicht geholfen hat, ihn ins Grab zu legen. Nun steht sie wieder dort. Zuerst bleibt sie draußen und weint. Dann beugt sie sich vor und sieht hinein. In der Kammer sieht sie zwei Engel sitzen, einen dort, wo das Haupt, und einen dort, wo die Füße des Leichnams gelegen haben, und sie sprechen mit ihr: "Warum weinst du?" Maria: "Man hat meinen Herrn weggenommen." Dann dreht sie sich zum ersten Mal um. Hinter ihr steht eine Gestalt.

Patrick Roth ist auf Genauigkeit aus: Die Grabkammern zeigen nach Osten, und es ist früher Morgen, also schaut sie gegen die aufgehende Sonne, die Gestalt, der Maria sich zuwendet, ist nur als Silhouette zu sehen. Es ist wohl ein Gärtner, Magdalena fragt ihn: "Herr, wenn du ihn weggebracht hast, sag mir, wohin du ihn gelegt hast, dann will ich ihn holen." Was nun folgt, nennt Roth die "Magdalenensekunde". Ausgelöst wird er durch ein Wort, das die Gestalt spricht: "Mariam." Sie wird bei ihrem Namen gerufen. Blitzartiges Wiedererkennen - ein Augenblick höchster Nähe. Es ist Jesus. Stop! Monica hat Schwierigkeiten. Der Text verlangt, daß sie sich nochmals umdreht, auf dem Höhepunkt wegdreht. Warum?

Wir lassen hier weg, was in der kalifornischen Schauspielschule an dieser Stelle geschieht, das muß bei Roth nachgelesen werden. Konzentrieren wir uns auf den Text, den es umzusetzen gilt, und sein Rätsel. Er ist wirklich selbst schon dramatisch genug. Was sagt die deutsche Einheitsübersetzung? "Da wandte sie sich ihm zu." Aber warum soll sie sich ihm noch einmal zuwenden? Zwei Verse zuvor hatte sie sich dem "Gärtner" doch schon zugewandt. Wir müssen im griechischen Originaltext nachschauen. Da steht "strapheisa". Das ist ein Aorist, wörtlich: "sich umgedreht habend". "Ihm zu" steht nicht da. Luther übersetzt korrekt: "Da wandte sie sich um und spricht zu ihm ,Rabbuni'." Dieser hebräische Ausdruck steigert die normale Anrede "Rabbi". In der jüdischen Literatur wird "Rabbuni", das "Lehrer" oder "Meister" heißt, auch für Gott verwendet. Es ist nicht so, als sei den wissenschaftlichen Exegeten die "unnötige" Drehung nicht aufgefallen. Aber sie registrieren sie als eine der Ungereimtheiten, die der Bibeltext aufgrund von Überarbeitungen nun einmal enthält.

Patrick Roth ist wahrlich nicht der erste, der biblische Szenen nachinszeniert. Ignatius von Loyola regt schon in seinen Exerzitien dazu an, sich die biblischen Schauplätze vor dem inneren Auge aufzubauen und Schritt für Schritt die Szenerie durch Imagination zu verlebendigen. Religionspädagogen lassen ihre Schüler biblische Szenen nachstellen und nachspielen, Oberammergau tut es, Mel Gibson tut es. Nun aber entdeckt auch die wissenschaftliche Exegese die Lehr--Performance, die bedeutungsträchtige Inszenierung, eine Art Handlungs- und Faktensprache, die dem Text als zweite Sprache unterlegt ist und die er dann nacherzählt. Die Ereignisse werden nicht erzählt, um etwas Geschehenes im Text noch einmal abzubilden, sie werden erzählt, damit sie Bedeutung erzeugen, damit sie sprechen.

Warum kann Monica nicht weiterspielen? Warum wendet sich Magdalena um? Patrick Roth wird hier zum Hilfsevangelisten, ergänzt einen Satz, läßt Magdalena erst einmal an Jesus vorbeigehen, damit es einen Sinn bekommt, daß sie sich wieder umdreht. Roth ist Dichter, er darf das. Aber wie, wenn wir ohne alle dichterischen Hinzufügungen und redaktionsgeschichtlichen Glättungen auskämen? Wie, wenn der Text, so wie er da steht, schon einen Sinn hätte? Und er hat einen Sinn, einen besonders tiefen.
Wir haben es mit Johannes zu tun. Dieser Evangelist verfolgt ein ungeheures Ziel: Er will, daß seine Leser erkennen, daß der Geist Gottes im Menschenfleisch ganz präsent geworden ist. Dieser Mensch ist für ihn Jesus, der im jüdischen Volk erwartete Messias. Die dramatische Spannung entsteht, weil er den historischen Jesus möglichst nahe an den Leser heranrückt und dennoch bezeugt, daß dieser Mensch das Fleisch gewordene Wort Gottes, der Sohn, Gott im Fleisch gewesen ist. So formuliert es seine berühmte Prägung aus dem Prolog: Jesus "ist Fleisch geworden und hat unter uns sein Zelt aufgeschlagen" (1,14).

Um die Ungeheuerlichkeit dieser Behauptung zu ermessen, müssen wir uns vergegenwärtigen, wer der Gott Israels ist. Wir haben es nicht mit einer dieser hellenistischen Gottheiten zu tun, zu deren Vergnügungen es gehört, gelegentlich in Menschengestalt zu erscheinen, etwa so, wie der abenteuerlustige Zeus in Gestalt des Amphytrion auftritt. Der Gott des alten Israel ist nichts weniger als der Hintergrund des Seins, der Schöpfer der Welt, der Gesetzgeber vom Sinai, der Unsichtbare, den man nicht anschauen darf. Johannes weiß das. Er formuliert: "Keiner hat Gott je gesehen" (1,18). Im Buch Exodus des Alten Testaments verhüllt Mose sein Gesicht, als er die Stimme aus dem brennenden Dornbusch hört, "denn er fürchtete sich, Gott anzuschauen". Und später (33,20) heißt es: "Du kannst mein Angesicht nicht sehen, denn kein Mensch kann mich sehen und am Leben bleiben." Gott kann nicht angeschaut werden. Wenn er sich bemerkbar macht, schickt er seine Medien, die Engel. Und regelmäßig befällt die Menschen Furcht. Regelmäßig beginnen die Erscheinungserzählungen mit dem "fürchtet Euch nicht", das wir aus der Weihnachtsgeschichte des Lukas kennen, wo der Engel die Hirten mit diesen Worten begrüßt.

Und nun Magdalena. Wen sieht sie? Sie sieht den, dessen grauenhaften Tod sie miterlebt hat. Er ist es, aber wer ist er jetzt? Sie erkennt ihn wieder, aber in der Magdalenensekunde erkennt sie auch, wer er wirklich ist, Rabbuni, der auferstandene Herr der Welten, der Sohn Gottes, Gott selbst. Johannes will seinen Lesern Magdalenas blitzartige Erkenntnis klarmachen, daß Jesus Gott ist. Und darum wendet sie sich ab. Sie muß sich abwenden, denn: "Keiner hat Gott je gesehen." Es geht um den Unterschied des Vorher und Nachher. Jesus ist nicht einfach wieder lebendig geworden und derselbe, der er vor seinem Tod gewesen war. Er ist ein anderer. Diese Differenz arbeitet der Text heraus. Der Gedanke wird noch durch jenes berühmte "noli me tangere" verstärkt: "Berühre mich nicht!" Nicht ansehen und nicht anfassen, nicht jetzt, nicht in diesem Leben. "Dann aber", wird Paulus im ersten Korintherbrief schreiben, "schauen wir von Angesicht zu Angesicht" (13,12).

Zu der Komposition des Textes gehört auch die folgende Gegengeschichte. Da macht einer die Berührung zur Bedingung des Glaubens: "Wenn ich meine Finger nicht in die Male der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht." Aber der ungläubige Thomas wird durch das Angebot Jesu beschämt: "Streck deine Hand aus und lege sie in meine Seite." Caravaggio hat die Szene in den Skandal verlängert. Die Art und Weise, wie er Thomas die Finger in die geöffnete Wunde stecken läßt, hat etwas eklig Blasphemisches. Wir verstehen sofort die Absurdität eines empirischen Gottesbeweises. Im Text kommt es nicht soweit. Hier stammelt der Beschämte nur: "Mein Herr und mein Gott!" Und am Ende mündet alles in den Satz: "Selig sind die, die nicht sehen und doch glauben."

Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, 11.04.2004




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