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Eckhard Nordhofen

Das Fleisch wird Wort
Patrick Roth und seine Hermeneutik Heiliger Schrift

Schon nach wenigen Zeilen merkt jeder Leser: Patrick Roths Prosa ist alteritär. Sie ist mit dem Aroma von Fremdheit fermentiert. Dieses Anders-Sprechen und -Schreiben ist mancherlei Deutungen ausgesetzt. Was zunächst befremden mag und bei ungeduldigen Konsumenten auch schon einmal zum Abbruch der Lektüre führt, kann beim avancierten Leser einen besonderen Sog entwickeln.
 
In der antiken Rhetorik wird zunächst immer eine konzinne, glatte und wohlgeformte, das heißt, nach dem Prinzip des Üblichen und Wohlbekannten gestaltete Sprache empfohlen. Tonart und Stil des Sprechers sollen keinerlei Aufmerksamkeit erregen. „Hört mir zu, denn ich habe etwas zu sagen.“ Das ist der triviale und daher stumme Sprechakt des Redners, der seine Tribüne betritt. Auf das, was er zu sagen hat, komme es schließlich auch an, so könnte man die komplementäre Erwartung des Publikums beschreiben. Wenn die unausgesprochene Aufforderung aber lautet: „Hört mir zu und achtet darauf, wie ich spreche“, wird dem Hörer ein zusätzliches Pensum aufgebürdet. Er muss eine Antwort auf die Frage finden, warum ein Redner oder Schriftsteller inkonzinn wird.

Wenn die banale Erklärung greift: Da will sich einer interessant machen, scheidet der Rhetor sehr schnell aus, denn ein Autor, der seinem Publikum eine zusätzliche Anstrengung zumutet, ohne dass es dafür innere Gründe gibt, hat es bald verloren. Normgerechte Rede über Normales, das passt immer. Stilistische Inkonzinnität aber gehört ins Repertoire des Redners, der sich um nicht-Alltägliches bemüht, so lautet die alternative Passung.

Dass Roths Sujets exakt dieses Kriterium erfüllen, wäre als erste Erklärung für seine Tonart sublimer Fremdheit durchaus plausibel. Fremd und erhaben sind heilige Schriften. Sie kommen von weit her, aus den Tiefen der Zeit und stehen in einer sakralen Tonart, die wie ein Sound nachgeahmt werden könnte. Wie aber, wenn die offensichtliche Familienähnlichkeit, die Roths Texte mit heiligen Schriften, insbesondere der Bibel haben, nichts mit einer manierierten Imitationslust zu tun hätte?  Gibt es eine tiefere, weiter führende Begründung?

In der „Christusnovelle“ Riverside wird die Sprache zu einem zentralen Thema, genauer die Sprache, die sich zutraut, das Heilige präsent zu machen. Es geht um die steile Medienpräsenz: Text als Ort Gottes. Die Wechselreden und Dialoge der drei handelnden Personen bewegen sich zunächst durchaus im Rahmen des Üblichen. Der Text in „Riverside“ ist daher, anders als im späteren großen Roman „Sunrise“ auch nur in Maßen inkonzinn und alteritär. So drängt sich die selbstreferentielle Struktur einer Erzählung, die auf stilistisch angemessene Weise von heiligen Ereignissen handelt, als eigene Botschaft zunächst nicht weiter auf.  Dann aber wird sich zeigen, dass die Novelle die Crux jeder heiligen Schrift zu ihrem zentralen Thema macht.

Was ist Heilige Schrift? Heilige Schrift im emphatischen Sinn will das Heilige präsentieren, das heißt, es gegenwärtig setzen und dem  Zeitstrom, dem sonst alles unterworfen ist, entreißen. Heilige Schrift will überzeitlich sein. Ihre Idee beschwört nichts weniger, als die Vernichtung jener Vernichtung, die zu den unabänderlichen Taten der Zeit nun einmal ohne wenn und aber zu gehören scheint. Diesen Anspruch erheben Heilige Schriften wie die Tora und der Koran. Für ihre Gläubigen sind sie bekanntlich präexistent, „vor aller Zeit“. 

Der Prolog des Johannesevangeliums, der dichteste, tiefste und folgenreichste Text des Neuen Testaments ist der locus classicus, wenn es um das Thema Zeit geht. Er beansprucht keineswegs selbst, ein heiliger Text im emphatischen Sinn zu sein, führt aber die Zeit als Grundkategorie aller Theologie vor. Am Anfang steht ein Begriff, der das Zeit-Thema performativ eröffnet: der Anfang. Johannes ruft den Schöpfungsbericht von Gen 1 auf und erzählt ihn neu. Dieser beginnt mit hebr. „bereschit“, einem Wort, das die Septuaginta, die authentisierte griechische Fassung, mit „En arché“, „Im Anfang“ übersetzt. Sprachlogisch gesehen, ist dieser Anfang nicht zweistellig, wie sonst alle Anfänge in der Zeit, die ein Vorher und Nachher kennen, sondern eine Singularität: der absolute Anfang, der Beginn des Zeitstrahls überhaupt, biblisch symbolisiert durch „Alpha“, den ersten Buchstaben des Alphabets.

Dieser Anfang ist bei Johannes der Ort des „Worts“. Der Johannesprolog schickt „das Wort“, bevor es überhaupt als Schrift fixiert werden könnte, in den Kampf gegen die Zeit: „Im Anfang war das Wort“. Dieses „Wort“ wird mit Gott identifiziert. „…das Wort war Gott“, um dann sofort als etwas von ihm unterschiedenes neben ihn zu treten. Es war „bei Gott“. Sodann wird es zur Schöpfungsinstanz. „Alles ist durch das Wort geworden“ und bekräftigend inklusiv, „…ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist“. Als Höhepunkt des Gedankengangs gilt zu recht der Vers, in dem es  heißt: „Und das Wort ist Fleisch geworden (lat. caro factum est E.N.) und hat unter uns gezeltet.“ (1,14) Von ihm ist der Begriff „Inkarnation“ abgeleitet. Wenn „das Wort“ dann im Folgenden mit Jesus identifiziert wird, tritt es in die Zeit ein, wird kontingent, und schlägt sein Zelt auf. Das Zelt ist im Unterschied zum Haus eine provisorische Behausung. Die übliche deutsche Übersetzung  „…und hat unter uns gewohnt“ übergeht diesen Aspekt, der freilich, wenn es um die Zeit geht, durchaus wichtig ist. Die Inkarnation ist zunächst nur der Beginn einer Episode von 33 Jahren. Ein Hauptziel des Evangelisten ist aber das „Bleiben“ des  inkarnierten Wortes. Dieses Verb wird zum key-word seines folgenden Evangelientextes. Christus war „Im Anfang“, vor aller Zeit, um dann nach Kreuzigung und Auferstehung das Zelt wieder abzuschlagen und in einen Himmel zurückzukehren, in dem Zeit nicht regiert.

Nach Immanuel Kant ist die Zeit eine „reine Anschauungsform“, anders ausgedrückt: ohne die Zeitkoordinate können wir uns nichts vorstellen. Zeit ist a priori, immer schon, nie nicht. Ein Außerhalb der Zeit ist nicht imaginierbar. Aber - es ist denkbar, und zwar im modus der Negation. So ist der Begriff Ewigkeit, der nichts anderes besagt, als die Abwesenheit von Zeit, rein privativ. Das heißt: Er nimmt etwas weg (lat. privatio, Beraubung).  Insofern sprengt er das, was im empirischen Normalfall als Wirklichkeit gilt, auf. Johannes operiert also mit einem negativen,  unanschaulichen Zeitbegriff. Er bewegt sich damit ganz in den Bahnen einer monotheistischen Gottesvorstellung von einem Schöpfer, der wie das Vorzeichen vor einer Klammer regiert, welche die Welt bedeutet. Gott als Gegenüber der Welt wird zur radikalen Einzigkeit, zu einer ontologischen Singularität.

Erst die Berufung auf ihn verschafft denen, die sich nach ihm ausstrecken, ein Widerlager. Für sie ist die Welt nach oben offen. Sie bestreiten Ludwig Wittgensteins ersten Satz seines „Tractatus“: „Die Welt ist alles, was der Fall ist“.

Von der ungeheuren Pointe des Prologs, dass nämlich das ewige „Wort“ als Mensch „Fleisch geworden“ ist, wäre viel, sehr viel zu reden. Hier nur der Hinweis: Wenn das Wort nicht Schrift, sondern Fleisch wurde, dann stehen wir vor einem entscheidenden Medienwechsel. 

Der  Islamwissenschaftler Harry A. Wolfson hat, offenbar in einer Analogie zum Begriff der Inkarnation,  mit Bezug auf den Koran  von einer „Inlibration“ gesprochen. Nach dieser Vorstellung ist Gott im Text einer Schrift, die er selbst geoffenbart hat, anwesend. Inkarnation will Inlibration überbieten. Der Begriff ist erst Mitte des vergangenen Jahrhunderts geprägt worden, die Sache, die er bezeichnet ist aber sehr alt. Das Inlibrationsmodell ist avant la lettre für die Entstehung des Monotheismus eine, ja die entscheidende mediengeschichtliche Voraussetzung gewesen. Dass aus dem gesprochenen Wort, das sonst im Winde verweht, haltbare Schrift wird, erscheint uns, die wir mit diesem Phänomen aufgewachsen sind, trivial. Keineswegs trivial aber ist, dass das damals junge Medium im alten Israel erstmals genutzt wurde, um das bis dahin gängige Gottesmedium, das Kultbild, zu ersetzen. Davon unten mehr.

Auch das Neue Testament wurde und wird oft als Teil der christlichen Bibel nach diesem Modell als „Heilige Schrift“ tituliert,  und das Christentum als „Buchreligion“. Sie ist aber für nicht-fundamentalistische  Christen nur deswegen heilig, weil sie das kanonische Dokument für den Christus ist. Er ist der eigentlich Heilige, die Schrift nur, insofern sie von ihm berichtet. Die Evangelien und die anderen Texte des NT haben menschliche Autoren. Nur an einer einzigen Stelle lässt einer dieser Verfasser Gott selbst schreiben. Auch davon unten mehr.

Zwei Wege: Gott im Text oder Nacherzählen der Heilsgeschichte.

Ist es möglich, durch Narration das Heilige zu präsentieren?  Das ist die Frage, die hinter Patrick Roths Novelle „Riverside“ steht.  Es ist dieselbe Frage, die später im Roman „Sunrise“ in einer Art Kabinettstück beantwortet wird.

Tabeas und Andreas, zwei Jesusjünger der zweiten Generation, sind  auf der Suche nach Zeugnissen über ihren Christus, dessen Evangelium im Entstehen begriffen ist. So beginnt die Erzählung. Sie wollen das festhalten,  aufschreiben, „…was unser Herr gesagt und wem ers gesagt hat. Wir sammeln die Worte derer, die ihm begegnet sind…Das aber als Zeugnis für die, die kommen werden und dieser Tage bekehrt werden sollen“ (S. 21)  So kommt die Genealogie eines Evangeliums, der Übergang von mündlichen Überlieferungen zur schriftlichen Fixierung in den Blick. In Diastasimos, der Hauptfigur der Novelle, sind sie gerade an den Richtigen geraten. „Denn warum soll ich auf die Seite von Schreibern gehen, die ihre Predigt nicht im eigen Fleisch und Blut geschrieben finden, sondern in Tintenstrichen auf Papier? Gebt mir den Mensch zu lesen, wenn ihr Menschen lesen wollt.“ Eine ekstatische Doppelcodierung von Schreiben wird aufgerufen „im eigen Fleisch und Blut“ oder eben „in Tintenstrichen auf Papier“  (S.21) Diastasimos ist ein Zeuge, der nicht Zeugnis ablegen will. Er könnte - aber er will nicht. Warum nicht? Etwas sträubt sich in ihm. Was er erlebt hat, ist so beschaffen, dass es ihm nicht möglich erscheint, es einfach aufzuschreiben. Er hat sich verkrochen und nimmt es sogar hin, als ungläubig, aussätzig und von Gott gestraft zu gelten. Er gehorcht einem unausgesprochenen Verbot, vom Unaussprechlichen zu berichten, geschweige denn es aufzuschreiben. Das bringt ihn auf Distanz zu den braven Kundschaftern Andreas und Tabeas, die gerne alles festhalten und protokollieren würden. Die Präsenz des Heiligen in einem schriftlichen Bericht auszuliefern, erscheint ihm erst einmal als Frevel. Dass er dies verweigert, erzeugt die Spannung der Novelle, die sich, ganz klassisch, erst am Ende effektvoll auflöst. Diastasimos macht es spannend.

Es ist ein wichtiges Qualitätskriterium von Literatur, dass ihre erzähltechnischen Strategien sich erst auf den zweiten Blick und im Nachhinein zeigen. Sie funktionieren ja auch nur, wenn die Personen ihrer inneren Logik folgen. Genau dies tut Diastasimos. In ihm haben wir es mit einem leidenschaftlichen Anwalt der Differenz zwischen dem Ereignis, das erlebt werden muss, und dem Versuch, dieses Ereignis in Schrift zu bannen, zu tun.

Kaum dass Tabeas aus seiner Tragtasche Schreibtafel und Stilus entnommen und „…keine zwei Silben weit kommt, da brüllt es ihn an! Und herrscht die Lumpengestalt, die da hockt, die da aufblickt jetzt, herrscht beide sie an: -Also, was wollt ihr?“

Das war überhaupt die erste wirkliche Regung des Alten. Der hatte vorher eine Stimme gehört: „Diastasimos, versteck dich vor ihnen…Verhülle dich, denn sie schreiben dich auf. Schreiben dich auf…oder graben dich zu. Denn sie verfassen Schrift!“ (S.14)

Diastasimos geht so weit, dass er auch das Reden für etwas hält, das nicht trifft, solange es nicht dem Primat des Handelns folgt. Der Sprachskeptiker verlangt nichts weniger als Identifikation. „Ihr aber redet groß. Ihr redet aber und redet. Ihr ahmt die nach, die euch geschickt… Dann packt an! Faßt mich an! Lebt, springt hinein in dieses Haus! Laßt euch ein in den Körper, den Körper dessen, der vor euch sitzt! Und dann, wenn ihr inwendig seid, Väter dieses Hauses, und wir uns also vertauscht, dann  sprecht! Ich will euch hören, wie ihr Worte knüpft.“ (S.36)

Diastasimos gilt als aussätzig. Was verlangt er? Er verlangt von den Rechercheuren mehr als nur Worte: „Warum handelt ihr nicht? Handelt doch aber mit Macht!
Was sollen wir tun? fragt Tabeas.
-Handelt! Steht auf, packt mich! Und heilt mich! Befehlt der Krankheit1 Einigt den Aussätzigen! Ist euch das nicht befohlen?“ (S.37)

Diastsimos verlangt etwas, wovon auch die Apostelgeschichte berichtet. Die Apostel, Jünger Jesu, agieren dort als Wunderheiler (Apg 5,12): „Durch die Hände der Apostel geschahen viele Zeichen und Wunder im Volk…Selbst die Kranken trug man auf die Straßen hinaus und legte sie auf Betten und Bahren, damit, wenn Petrus vorüberkam, wenigsten sein Schatten auf einen von ihnen fiel.“(5,15) So bewegt sich Roth ganz im erzählerischen Rahmen der Bibel, an deren Rand er seine apokryphe Novelle anheftet.

Heilendes Handeln, das ist für Diastasimos der Maßstab des Heiligen. Schließlich lässt er sich unterhalb dieses Maßstabs doch herbei zu berichten. Aber immer wieder stoßen die Wörter an Grenzen.
„Und Er, was sagte der Meister? Fragt Andreas schon leiser.
Hier musst du wissen, dass er gar nichts gesagt, lieber Andreas. Ich weiß nicht, wie ihr as in Schrift fassen wollt. Es war einfach still.“

How to do things with words. So lautet der Titel eines berühmten Aufsatzes von John L. Austin, der uns daran erinnert hat, wie sehr wir mit Sprache handeln können. Performatives Sprechen gewinnt die Qualität von Handeln. Wo es ausschließlich auf Taten ankommt, kann man davon erzählen. Wenn es handelnde Worte sind, auch von diesen.

Diastasimos, dessen sprechenden Namen wir mit „der, der es mit dem Unterschied hält“ übersetzen könnten, will das Unaussprechliche nicht mit dem Aussprechlichen vermischen. Wie aber vom Unaussprechlichen nicht Schweigen? Gegen Ende der Novelle (S.87) versucht er es mit einer Hermeneutik: „…Vor der Tat und den Taten, vor dem Erleben des Glaubens, das euch im Schreiben und Aufnotieren verloren geht, und an das ihr mit euren Buchstaben werdet niemand erinnern, in keiner Zeit. Genau das sollt ihr lernen und war gut, dass du aufgehört hast zu notieren, Tabeas, und für andere und Thomas festzuhalten statt zu erfahren. Heilung aber erfährt man, und schreibt sich nicht, sondern handelt, wird ausgeübt, das ist: geübt und nicht innen sondern draußen. Das ist es, habt ihr es begriffen? Das ist ein Teil davon. Das andere aber ist Gleichnis. Denn jetzt ist Er nicht mehr, und wir alle sehn von oben herab in den Zeitenbrunnen…“

Nur im Erleben und im Erfahren ist die Begegnung mit dem Heiligen möglich. Dann erst kommen die Worte. Sie sind nachträglich, sie laufen der Zeit hinterher, werden abgewertet zum „Gleichnis“. So bestimmt Diastasimos, so bestimmt Patrick Roth das Verhältnis der Schrift zu ihrem Gegenstand. Schrift, die nur Schrift bleibt, erreicht das Heilige nicht. Das ist eine Absage an das emphatische, fundamentalistische Konzept von Inlibration.

In seinem großen Roman „Sunrise“ nähert sich der  Autor dieser Botschaft von einer ganz anderen Seite. Es geht diesmal nicht um den Übergang vom authentischen Erleben und Handeln zur einer Schrift, das nachträglich festhalten will aber allenfalls vom Primat der göttlichen Praxis und Präsenz erzählen kann, sondern umgekehrt von der vorhandenen, auf wunderbare Weise aufgefundenen Heiligen Schrift, die erst dann, wenn das, was sie intendiert, Praxis wird, beglaubigt und legitimiert ist. Es handelt sich um die Tora, also Heilige Schrift, die in Israel nach dem Inlibrationsmodell gedeutet wird.

Das zweite Buch von „Sunrise“ entwickelt seinen ersten Erzählstrang entlang einer präzisen Wegbeschreibung. Es geht, wie auch mehrfach in den Evangelien, hinauf nach Jerusalem: ein Pilgerweg. Über die Jesreel-Ebene nach Ofra, wo sich die Wege kreuzen, westlich davon Megiddo, wo Joschija „…einst starb, an der Wunde, die sich der Pfeil des Ägypters gebissen.“ (S.126)

Hier schon befestigt Patrick Roth seinen Erzählfaden, der fortan den Pilgerweg begleitet. König Joschija ist der Held der Erzählung „vom verlorenen Buch“. Jesus kennt sie längst. Kinder – Jesus ist zwölf - wollen immer alle Geschichten, jedenfalls die, die es in sich haben, wieder und wieder hören. Diesmal kommt aber ein Grund von ganz anderem Gewicht hinzu. Jesus: „Von allen Tagen verschieden ist dieser Tag heute.“ Das ist die zeitvernichtende Formel, mit der am Sederabend bis heute die Kinder Israels die Befreiung aus dem Sklavenhaus Ägypten gegenwärtig setzen. Auch Roth blendet die Zeiten übereinander, mehr noch, er suspendiert die Zeit, geht damit auf die allerhöchste für eine Erzählung denkbare Frequenz. Er lässt Jesus sprechen: „Denn heute zum ersten Mal gehe ich selbst Schritt für Schritt hinauf zu dem Ort, wo König Joschija das Verlorene fand. Mir ist aber, als kämen wir im Erzählen gleichzeitig mit ihm ins Heiligtum. Fänden gleichzeitig hin zum verlorenen Buch, wo der König es gefunden…“ (S.127)

So wird es kommen. Der Pilgerweg, die Geschichte von Joschija, der das Verlorene fand, dazu auch die Geschichte von Eli und Samuel, (1Sam 3) der aus dem Schlaf heraus einer Stimme folgt, die ihn ruft, werden zu einem Erzählstrang kunstvoll verdröselt. Am Ende gewinnt die Erzählung sakramentale Qualität.

Was ist Heilige Schrift?

Erstaunlich und verblüffend ist es, wie dieses literarische Meisterstück zu einer nüchtern rekonstruierten religionsgeschichtlichen Mediengeschichte des Monotheismus passt, die ich hier als Exkurs einschiebe. Verblüffend vor allem deshalb, weil Patrick Roth diese noch gar kennen konnte, denn sie ist bisher nur in Bruchstücken, in entlegenen Texten, also so gut wie gar nicht veröffentlicht. Hier kann sie auch nur in einer groben Skizze angedeutet werden.

Um zu ermessen, was Heilige Schrift überhaupt bedeutet, müssen wir zunächst in einem kleinen Exkurs das Medium verstehen, an dessen Stelle sie tritt. Daher ist ein systematischer Blick auf das Phänomen Kultbild angezeigt. Denn ohne die Kritik an den selbstgemachten Göttern ist die Wende zum Monotheismus nicht zu verstehen. Sie äußert sich als Kritik an selbstgefertigten Kultfiguren.
                                 
Seit Sigmund Freuds „Der Mann Moses und die monoteheistische Religion“ (1939)“ lassen wir sie bei Amenophis IV./ Echnaton in Tell el Amarna beginnen. Wahrscheinlich war der Monotheismus vom ersten Moment an eine Sekundärreligion, d.h. eine Religion, die ihre Existenz der Kritik an der polytheistischen Normalreligion der alten Welt verdankte. Die regionalen Ausformungen des Polytheismus erscheinen wie die Dialekte einer Sprache. Man verstand sie überall. Wenn die Römer ein Land eroberten, opferten sie den Landesgöttern und stellten deren Kultbilder in ihr Pantheon ein. Mit Jupiter, Juno, Mars und Minerva konnten sich alle vertragen. Alles ist, nach Thales, voll von Göttern. Göttermythen hatten keine doktrinale Qualität.

Ob Echnaton tatsächlich der erste war, der eine aufklärerische Kritik am offensichtlichen Zusammenhang von menschlichen Interessen und himmlischen Adressen geübt hatte, wissen wir nicht. Monotheistische Tendenzen finden sich auch in der griechischen Philosophie, bei den Pythagoräern,  den Vorsokratikern  und Sokrates/Platon. Jedenfalls schmolz er die Vielen ein und adressierte sich an die heißeste, hellste, spektakulärste Singularität des Kosmos, die Sonne. Die Sache blieb bekanntlich Episode. Jan Assmann, der zu diesem Zweck die Methode der Gedächtnisgeschichte erfand, lässt sie im Untergrund weiter schwelen und (1998) bei „Moses dem Ägypter“ als „Mosaische Entgegensetzung“ (bzw. „Unterscheidung“) wieder ans Licht treten.

Die Realgeschichte des biblischen Monotheismus ist eingewoben in die Traditionskontexte von Festen, passageren Riten und Opferkulten. Kultfiguren spielen dabei eine besondere Rolle. Rahel versteckt am Jabbok, wo Jakob seinen Namen Israel erkämpft, die Götterfiguren ihres Vaters Laban unter ihren Röcken (Gen 31,34ff).
Die alttestamentliche Forschung hat über die Phase des Henotheismus, der Monolatrie und der Jahwe-allein-Bewegung bis hin zur vollen Entfaltung nach dem babylonischen Exil die Entwicklung des Monotheismus erschlossen. Alle diese Einzelheiten und noch viel mehr wird eine ausgefaltete Theorie des religiösen kommunikativen Handelns, über die wir längst noch nicht verfügen, inspizieren müssen.  Und doch glaube ich  bei allem Reichtum an archäologischen Spuren mit Jan Assmann, dass wir diese historische Komplexität auf einen systematischen Kern reduzieren können.

Die aus der Sicht der Propheten unverdienten Befreiungserlebnisse, aus dem Sklavenhaus Ägypten und aus Babylon, werden im alten Israel zum narrativen Widerlager für die große Alternative zur anthropogenen Religion. Hier hatte Gott gehandelt, während der Polytheismus das Ergebnis menschlicher Anstrengung war. Dieser Kerngedanke der biblischen Aufklärung gibt Antwort auf den Grundverdacht, der alle Religion bis heute kritisch begleitet: Religion ist nichts anderes als die Verlängerung unserer Bedürfnisse und Wünsche.

Bei näherer Betrachtung der bunten Götterwelt legt sich dieser kritische Gedanke in der Tat nahe. Alle Mythen geben diesen Gestalten eine bestimmte Funktion, die mit menschlichen Interessen korreliert. Diese Korrelation macht sie verdächtig. Die Götter sind selbstgemacht. Wenn ein Gott - wenn Gott ein echtes Gegenüber des Menschen sein soll, dann darf er nicht selbstgemacht sein. Ein selbstgemachter Gott ist kein Gott, er ist ein Götze. Was auf jeden Fall selbstgemacht ist, sind Götterfiguren. Sie tauchen nicht nur bei Rahel auf sondern auch bei Ezechiel, wo mit ihnen Unzucht getrieben wird, (16,17) und auch sonst mehrfach, besonders eindrucksvoll im Buch der Weisheit 13,1-15,19 und bei (Deutero)Jesaia 44. Mit orientalischer Freude am variierend wiederholenden Erzählen schildert der Prophet kleinschrittig die Produktion von Götterfiguren aus Metall oder Holz und ergeht sich in Schimpf und Spott über die Dummheit derer, die doch eigentlich wissen müssten, dass diese Götter ihre Existenz ihrer eigenen Arbeit verdanken. Ganz ähnlich erfahren wir in Ex 32,2 wie die Kinder Israels ihre Ohrringe abgeben, wie Aaron eine Skizze macht und dann das goldene Kalb herstellt, um das sie dann tanzen.

Die biblische Aufklärung kennt zwar im Buch Daniel auch den Priesterbetrug, den der Prophet dort mit kriminalistischen Mitteln entlarvt, (14,1-22) aber sonst wird der Herstellungsprozess der Götterfiguren und deren umgehende Anbetung gleichsam in einem Atemzug beschrieben, so dass die Dummheit der Götzendiener deutlich zutage tritt.  Sie betrügen sich selbst. Aus Holz (Jes 44,15): „…schürt man das Feuer und bäckt damit Brot. Oder man schnitzt daraus einen Gott und wirft sich nieder vor ihm. Man macht ein Götterbild und wirft sich nieder vor ihm.“ Das ist natürlich Polemik. Wir kennen aus Mesopotamien Ableugnungsriten, bei denen die Bildkünstler beteuern müssen, dass sie mit der Herstellung der Figuren nichts zu tun hatten, um diesen die Aura eines wunderbaren Ursprungs zu geben. (Angelika Berlejung, 1998)

Das Kultbild als Gottesmedium lebt von einer Aufladung, die es mit Fetischen gemein hat.  Das Medium Bild gewinnt bis heute die ihm eigene Faszination aus seinem Potenzial, die Referenz auf das, was es ursprünglich doch nur darstellend vertreten sollte, zum Verschwinden zu bringen. Bilder gewinnen unter bestimmten Voraussetzungen eine suggestive Präsenz, so dass sie plötzlich sind, was sie einmal nur bedeuteten. Der Künstler Pygmalion kann sich so in ein Frauenbild verlieben, dem er gerade erst den letzten Schliff gegeben hatte. Das gibt es also tatsächlich – zumindest im Mythos. Hier wäre die Polemik tatsächlich nicht grundlos.
Aber war die polytheistische Menschheit tatsächlich so dumm, wie die biblische Aufklärung sie hinstellt?

Das ist äußerst unwahrscheinlich.  Waren Menschen überhaupt jemals so dumm, dass sie die Differenz zwischen dem Medium der Darstellung und dem Dargestellten nicht gesehen hätten? Ein Bild ist ein Bild, ist ein Bild... Und wenn der begeisterte Menschenschwarm sich im Tanz doch einmal zu etwas anderem verstieg, wird es immer Einzelne gegeben haben, die, wie der Aufklärer in Platons Höhle, die Fesseln abstreifen und die Schatten mit den Urbildern vergleichen konnten. Auch kennen wir die eigenen Reize, die uns bisweilen dazu verlocken, die Ebenen des Alltags zu verlassen um uns anderen Wirklichkeiten, der des Romans, des Kinos oder Brettern, die die Welt bedeuten, zu überlassen und aus der Dialektik von Verzauberung und Ernüchterung nicht nur Vergnügen, sondern auch einen Lebensnutzen ziehen, der in der Erweiterung unseres Wirklichkeitshorizontes besteht. Es fällt schwer, sich einen Bildzauber ohne den Kontrast der Ernüchterung vorzustellen.

Was ist ein Bild? Gottfried Böhm (1995) und Horst Bredekamp (2010) haben gerade erst den Problemhorizont für unsere Gegenwart neu vermessen und Hans Belting hat die Kunstgeschichte zur Bild-Anthropologie amplifiziert. Wo ist der Ort der Bilder? In unserem Kopf oder auf dem sog. Bildträger? In der barocken Illusionsmalerei machen die Maler den Betrachter zu ihrem Komplizen. Der muss, etwa bei Pozzos Scheinkuppel in der römischen Kirche Il Gesú, sich auf einen markierten Punkt am Boden begeben, sich seine Illusionierung also selbst erarbeiten, um dann im Weitergehen den dialektischen Spaß der Herstellung des Scheins und seines Kollapses zu genießen. So erzieht die intelligente Malerei (Michael Baxandall, 1996) das aufgeklärte Auge zum Misstrauen. Die konstruktive Seite des Sehvorgangs wird durch die performative Beteiligung des aktiven Betrachters ins Bewusstsein gehoben. Das mag erst einmal ein Scherz, oder die Vorführung eines virtuosen Spiels mit Perspektiven sein, zwingt aber auch zur Reflexion: Der Betrachter steht vor einer Wand und sieht nur informelle Schlieren. Erst im spitzen Winkel von der Seite betrachtet, fügt sich das Bild zusammen: Anamorphosen. Das Sehen kann gar nicht anders als sich, nach dem bekannten Hegelschen Bild, beim Sehen über die Schulter zu schauen. Berühmt ist Holbeins Bildnis zweier Diplomaten, „The Ambassadors“  in der Londoner National Gallery.  Wer das formlose Gebilde, das im Vordergrund vor ihnen zu schweben scheint, „lesen“ will, muss die Frontalperspektive verlassen. Aus der schrägen Seitenansicht erkennt er dann einen Totenschädel.

Die Geschichten vom Golem und die von Pinocchio, inszenieren den stärksten Bildzauber. Nicht zufällig sind diese Figuren, die von ihren Erzählern zum Leben erweckt wurden, dreidimensional. Vorsicht also bei dreidimensionalen anthropomorphen Skulpturen! Da fehlt nicht viel, und sie fangen an, sich zu bewegen. Sie strahlen die stärkste suggestive Präsenz ab: starke Bilder. Am präsentativen Potenzial dieser Güteklasse arbeitet sich bis heute das Entzauberungsgewerbe ab. Exakt sie sind es, die das zweite der Zehn Gebote verbietet. „Du sollst dir kein Gottesbild machen.“ Ex 20,4.

Es stellt sich nun die Frage, warum die Entzauberung der Götterbilder nicht schon früher, nicht schon immer zur Vernichtung der Götter als Götter geführt hatte, wenn denn unsere These stimmt, dass die Polytheisten nicht wirklich dumm waren? Ich vertrete die These, dass dafür eine mediale Voraussetzung erforderlich war. Kritik mag es immer gegeben haben. Aber erst als ein anderes Medium zur Verfügung stand, konnte sich die monotheistische Alternative entwickeln. Dieses andere Medium war die Schrift. In der Religionsgeschichte gibt es ein Zeitalter des Kultbilds und ein Zeitalter der Kultschrift. Sie ist das neue Gottesmedium des jungen Monotheismus. Der Wechsel der Medien bedeutet weit mehr als den Umstieg auf ein neues Transportmittel. Er hat nichts weniger als einen kompletten Theologiewechsel zur Folge. Vom Bild und seinem Täuschungspotenzial musste die Rede sein, um die Bedeutung des scriptural turn, des Medienwechsels zur Schrift begreiflich zu machen, von dem die Religionsgeschichte spricht.

Schrift ist zuerst einmal fixierte Sprache. Sprache aber ist, gegen alle biologistischen Warnungen vor dem bösen Anthropozentrismus tatsächlich ein anthropologisches Proprium. Wer dem Aristoteles, der den Menschen als das „Lebewesen das Sprache hat“ (Zoon logon echon) definiert, nicht glauben will, der glaubt vielleicht Konrad Lorenz und seinem Schulkameraden Karl Popper (Das Altenberger Gespräch, 1985, auch auf youtube), die mit Rückgriff auf Karl Bühlers Sprachfunktionen und in Abgrenzung zu den Tiersprachen herausgearbeitet haben, dass nur homo sapiens mit Hilfe seiner Sprache etwas orts- und zeitversetzt darstellen kann. Einfach gesagt: Wir können Abwesendes anwesend sein lassen. Ziemlich bemerkenswert, diese Simultaneität von Anwesenheit und Abwesenheit. Das Wort „Brathähnchen“ vor einem hungrigen Publikum ausgesprochen, wird bei diesem einen Speichelfluss auslösen. Irgendwie ist ein Brathähnchen präsent, aber auch wieder nicht. Wörter machen nicht satt. Zudem sind sie flüchtig. „O welch ein Wort entfleuchte dem Gehege deiner Zähne“. Die Erinnerung kann es vielleicht eine Weile verwahren, aber dann verweht es im Wind. Diesen Satz aber hat Homer als „geflügeltes Wort“ aufgeschrieben und daher besitzen wir ihn noch heute.  Wer schreibt, der bleibt. Schrift bleibt.

Mit der Möglichkeit, gesprochene Sprache haltbar zu machen, ist das etabliert, was der Bühlerschüler Popper die „Dritte Welt“ nennt.  In dieser „Welt“ sind alle Objektivationen zuhause, die der menschlichen Darstellungskunst entspringen: objective knowledge. In der „Mosaischen Entgegensetzung“ wird zum ersten Mal das neue Medium Schrift theologisch genutzt. Es ist jene Simultaneität von Anwesenheit und Abwesenheit der Sprache, die natürlich auch das neue Medium auszeichnet. Anders als beim Bild ist es ausgeschlossen, dass das Medium mit dem verwechselt wird, was es doch nur darstellt. Das ist der entscheidende Vorteil.

Eigentlich sind es dann vier Buchstaben, auf die der Schriftkult des alten Israel sich konzentriert: JHWH. Dieser „Gottesname“ ist so heilig, dass kein Frommer ihn ausspricht. Beim Vorlesen wird er mit Ausdrücken wie Adonai oder Elohim umschrieben. Im Text freilich bleibt er präsent. In diesem genialen Tetragramm treffen wir auf ein echtes hapax legomenon. Einen Ausdruck, der schon aus sprachlogischen Gründen radikal einzig ist.

In der Sprachlogik betrachten wir zum einen den Umfang eines Begriffs, seine Extension, also die Reichweite dessen, was er umfasst, sodann ist der Begriffsinhalt bestimmend, seine Intension. Es kann nur einmal vorkommen, dass die maximale Extension zur Intension wird, dass Extension und Intension zusammenfallen. Das ist hier der  Fall. Mose will am brennenden und nicht verbrennenden Dornbusch, der Installation einer Unmöglichkeit, wissen, wer da zu ihm spricht (Ex 3,13).  Die Antwort „Ich bin der Ich bin da“, JHWH muss, gemäß der hebräischen Grammatik, in allen drei Zeiten gehört werden, also: Der da ist, da war und  da sein wird. Die Ausrufung des puren Daseins, ubiquitär - nirgendwo nicht, diachron - niemals nicht, die Ausrufung also der maximalen Extension ohne jede weitere intensionale Bestimmung, zeigt einmal mehr und hier am deutlichsten dass der Gott, der sich hier offenbart, eine Existenz ist, für die wir eine eigene ontologische Klasse benötigen. Er ist kein Ding in der Welt, er ist ihr Gegenüber. In der Genesis hatten wir erfahren, dass er ihr Schöpfer ist. Er hat auch Echnatons Sonne erschaffen, ist also kein Teil des Kosmos. Als Verlängerung menschlicher Bedürfnisse und Zwecke kommt er nicht in Frage. Durch den Mund Jesaias spricht er: „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken und eure Wege sind nicht meine Wege“ (55,8) Diese kontrafaktische Instanz ist die religionsgeschichtliche Supernova, im Vergleich zu den funktionalen innerkosmischen Gottheiten ein Unterschied ums Ganze – also auch zu Echnaton.

Das große Konkurrenzdrama von Kultbild und Schrift, die Inszenierung des großen Medienwechsels muss hier nicht im Detail ausgebreitet werden. Es ist bekannt, wie Mose mit der geoffenbarten, d.h. nicht selbstgemachten Schrift vom Sinai herabsteigt, den Tanz um das Kultkalb sieht, die Tafeln im Zorn zerschmettert - immerhin hatte der Finger Gottes sie von beiden Seiten beschrieben -  dann das Kalb zu Staub zermalmt, den er in einer Lehr-performance ins Wasser schüttet, das die Israeliten dann trinken müssen. Sie müssen sich einverleiben, was aus ihnen gekommen war. Am Ende siegt die Schrift, Mose darf sie nach Diktat Gottes neu schreiben. Seitdem war die Schrift das Königsmedium des jungen Monotheismus. Sie kann Abwesendes re-präsentieren, den der da ist, sich aber gleichzeitig entzieht.

Ein weiterer, ein letzter Medienwechsel musste freilich kommen. Der Finger Gottes schreibt ein letztes Mal, diesmal nicht auf steinerne Tafeln, sondern in den Staub des Tempelbodens. Es ist das einzige Mal, dass Jesus, das Fleisch gewordene Wort, in den Evangelien überhaupt schreibt. Was Jesus, hier schreibt, wäre auf demselben Level wie das, wovon in Ex 32,18 berichtet wird: Heilige Schrift. Dort ist die Rede von „…Tafeln, auf die der Finger Gottes geschrieben hatte.“

In der Perikope Joh 8, 1-11 ist die Heilige Schrift das Thema. Es geht um die Frage, was sie wert ist, und was sie kann.  „Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen“ sagen die Anwälte der Schrift, die Schriftgelehrten und Pharisäer. „Was sagst du?“ Sie hatten eine Ehebrecherin ertappt und herbeigeschleppt. Origenes, Chrysostomus, Hieronymus und andere Väter hätten gerne gewusst, was Jesus, wenn er denn schon einmal schreibt, da geschrieben hat. Der Wunsch ist durchaus verständlich, denn das, was Jesus selbst geschrieben hat, wäre ja wirklich Heilige Schrift im vollen Sinn des  Inlibrationskonzeptes gewesen. Gegen diese durchaus begreifliche Neugier gibt es ein schlagendes Argument: Wenn wir es hätten wissen sollen, hätte der Evangelist es uns wissen lassen. Hat er aber nicht. Sie wird uns vorenthalten. Wir haben es hier wieder mit einer Lehr-performance zu tun. Jesus „zerschreibt“ die Schrift. Natürlich sind die Schriftgelehrten nicht zufrieden. Das ist für sie keine Antwort. So richtet Jesus sich auf, sagt den wunderbaren Satz: “Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“, und die Frau ist gerettet, bückt sich wieder und schreibt mit dem Finger auf die Erde. Vielleicht hatte Paulus eine Geschichte dieser Art im Sinn, als er formulierte: „Der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig.“(2 Kor 3,6)

Jesus und die Schrift

Patrick Roth baut die Szene aus Lk 2,41-52 leicht verfremdet in seine Erzählung vom verlorenen Buch ein. Der zwölfjährige Jesus sitzt im Tempel unter den Schriftgelehrten, hört und stellt Fragen. Da ist er schon - noch - einer von ihnen. Auch bei Mt in der Bergpredigt redet er zunächst wie ein Schriftgelehrter: Kein Jota weg von Gesetz und Propheten! “Wer auch nur eins von den kleinsten Geboten aufhebt, wird im Himmelreich der Kleinste sein.“ (5,19) Dann aber kommt das Entscheidende: „Wenn eure Gerechtigkeit nicht größer ist, als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen“.

Jesus will mehr als die Schrift kann.  Daher ist sie als „Ort Gottes“ defizient. Es ist Johannes, der in seinem Prolog, die Sache in 1,14 auf den Punkt bringt: „Das Wort ist Fleisch geworden.“ Ein Mensch wird mit dem Wort identisch. Es ist das WORT, das Patrick Roth in Majuskeln schreibt, das im Anfang war, bei Gott, Gott war, in die ihm fremde Welt der Finsternis, sein Eigentum, kam, Fleisch wurde. Es ist dieser Text, der Johannesprolog, der zum wichtigsten Quelltext des Christentums wurde. Menschenfleisch als Ort Gottes. Der Mensch – ein Gottesmedium. Jesus zeigt, dass es möglich ist, aber alle sind angesprochen. „Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben,…aus Gott geboren sind.“(1,12f) Das Christentum ist, seit der Mensch zum Gottesmedium ausgerufen ist, keine Buchreligion im emphatischen Sinn mehr. Es ehrt seine Heilige Schrift, der Ort Gottes aber ist das Fleisch gewordene Wort, dessen Präsenz in jedem Menschen, der anstelle Gottes handelt, einfacher, seinen Willen tut, dann aber vor allem im Sakrament der Eucharistie ermöglicht wird. Sie ist das Mysterium, das die Zeit suspendiert. Die Gläubigen verleiben es sich ein.

Patrick Roth rekonstruiert auf völlig neue und eigenständige Weise den Übergang von der Buchreligion zur Inkarnation. In der Erzählung, die Jesus nicht oft genug hören kann und in die einzutreten ihm schließlich befohlen wird, in der Geschichte vom König Joschija und vom verlorenen  Buch, inszeniert er eine ausführliche Deklimax mit den Mitteln epischen Erzählens. Stufe für Stufe wird die Schrift ihrem einzigen „Sitz im Leben“, d.h. dem Ort ihres Übergangs in einen Lebens- und Handlungskontext zugeführt, der sie wirklich legitimiert, weil die Wirkung, die sie so erreicht, ihre ursprüngliche Bestimmung war. So wird deutlich, dass die Schrift nicht für sich bestehen kann. Sie muss dem Leben dienen. Ihm ist sie zu- und nachgeordnet. Erst wenn sie sich inkarniert, Floeisch wird, ist sie an Ort und Stelle, dann ist das Buch in der Sprache Roths „gefunden“. Jedesmal, wenn Jesus meint:  „Da ward gefunden das verlorene Buch“, respondiert Joseph sein „noch nicht gefunden…“;  und jedes Mal lernen wir zusätzlich  etwas über die Schrift: „Denn was nützt die Schriftrolle dem, der sie zwar greifen aber nicht lesen kann…“ Beim nächsten „noch nicht gefunden…“ verstand der Werkmeister nicht, was er las und sich reden hörte. Und wieder versucht es Jesus mit seinem  „Da ward gefunden…“ und Joseph sein „Noch nicht gefunden war es, denn wer das Verlorene versteht, nicht aber Macht hat, danach zu handeln, dem bleibt es verloren.“  Da ist sie wieder die Schnittstelle von Schrift und Leben, die der Roth-Leser aus "Riverside" schon so gut kennt. Hier berührt sich die Schriftreflexion des Romans mit der Botschaft der Novelle. Erst als der König, im Besitz der Schriftrolle, das Silber zur Entlohnung der Bauleute unberechnet auf Vertrauen hinabreicht, als vom Unzählbaren, unberechenbar-Unfaßbaren die Rede ist, „Da wusste der Schreiber, dass Joschija von Gott sprach, als spräche er vom verlorenen Buch.“(S.130)

Wenig später heißt es: „Joschija…spricht nicht: `Hier ist es das Wort` Sondern spricht: `Hier war es schon immer, das Wort, hier ist es immer gewesen, und ich habe es nicht gesehen!“  (S.131)

Roths absteigende Klimax ist eine anti-fundamentalistische Demonstration gegen den blinden Schriftbesitz, von dem alle Buchreligion immer bedroht ist. Seine Hermeneutik gipfelt darin, dass der König, eins mit dem göttlichen Willen, das Tauschprinzip aufhebt. Nicht rechnet, auf Vertrauen setzt.

Sodann: Das verlorene Buch konnte nicht von einem gefunden werden, der es suchte. „Willst du finden, findest du nichts.“ (S.133) Das urmonotheistische Prinzip, dass Göttliches nicht Produkt menschlicher Bemühung sein darf, wird durchgehalten. Viertausend Jahre Gnadentheologie bis hin zu Schopenhauers Verabschiedung des Willens klingen hier durch: „Wo du nicht absichtlich suchst, ohne Willen hingerätst, so dass es zu dir kommt, sich dir offenbart…“ (S.134) da gibt sich der nicht selbstgemachte Gott zu erkennen: Offenbarung.

Der Schriftsteller Roth ist der Souverän der Wirklichkeitskoordinaten, auch der wunderbaren. Was für ein Einfall: Jesus geht, einer Stimme folgend, vorbei an allen Wächtern, wie unter einer Tarnkappe, vorbei am viergehörnten Altar, den Priestern, den Schaubroten, dem Leuchter, dem Räucheraltar, tritt hinter den Vorhang ins Allerheiligste. Joseph packt Entsetzen, als er das hört. Keinem Menschen, keinem außer dem Hohenpriester, der dies auch nur einmal im Jahr darf, ist es erlaubt, das Allerheiligste zu betreten. Aber er könnte sich erinnern an ein Gespräch, das er mit Jesus über Samuel geführt hatte. Auch der war einer Stimme gefolgt, und diese Parallelerzählung war für Jesus zum Vorbild geworden. Roth folgt hier dem biblischen Erzählmuster des sog. typologischen Schriftbeweises. Ihm zufolge haben die Ereignisse, die im Neuen Testament berichtet werden, sehr oft im Alten eine Parallele, die als Prophezeiung gelesen wird. Dann heißt es immer „…so sollte sich das Schriftwort erfüllen…“ (Z.B. Joh 19,24)  So wie Samuel also folgt auch Jesus einer Stimme. Jesus: „Und im Wissen davon erwach ich, halb im Traum noch und sag: ,Sprich Vater, dein Sohn hört.'“ So ähnlich hatte auch Samuel gesprochen: „Rede Herr, dein Diener hört“ Und so hatte es Jesus im Ohr, so hatte es Roth vorab im Gedankenaustausch Jesu mit Joseph erzählt.

Und als ER (der in Majuskeln Geschriebene) spricht, Sein Wort zu mir, da ist, was ER sagt, gänzlich ungetrennt eins mit IHM. Und eins mit ihm, der es hört.“ Da war der Schmelzpunkt erreicht, sakramentrale Performanz: „Gefunden habe ich das verlorene Buch“. (S.165) Jesus, der inkarnierte Logos, war eins mit dem Wort geworden. Roth hat den  Höhepunkt der monotheistischen Mediengeschichte, die Vollendung des Wortes durch seine Fleischwerdung neu und doch authentisch erzählt. Dass seine Sprache inkonzinn und alteritär ist, versteht sich da von selbst. Sie muss es sein, denn anders könnte vom Heiligen nicht erzählt werden.

 

 

 

 

 

 

Fast wörtlich so „…unvermischt und ungetrennt“, formuliert später das Konzil von Chalcedon (451) in seiner bewusst paradoxen Aussage über die zwei Naturen Jesu, der göttlichen und der menschlichen. Es grenzt sich damit von allen Versuchen ab, die Spannung des sich entziehenden göttlichen Mysteriums nach der einen (nur Mensch, wenn auch ein besonderer) oder nur Gott in menschlicher Verkleidung, aufzulösen.




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