Home - Autoren der Gegenwart - deutschsprachige - Patrick Roth - Das Fleisch wird Wort
|
Eckhard Nordhofen Das Fleisch wird Wort Schon nach wenigen Zeilen merkt jeder Leser: Patrick Roths Prosa ist alteritär. Sie ist mit dem Aroma von Fremdheit fermentiert. Dieses Anders-Sprechen und -Schreiben ist mancherlei Deutungen ausgesetzt. Was zunächst befremden mag und bei ungeduldigen Konsumenten auch schon einmal zum Abbruch der Lektüre führt, kann beim avancierten Leser einen besonderen Sog entwickeln. Wenn die banale Erklärung greift: Da will sich einer interessant machen, scheidet der Rhetor sehr schnell aus, denn ein Autor, der seinem Publikum eine zusätzliche Anstrengung zumutet, ohne dass es dafür innere Gründe gibt, hat es bald verloren. Normgerechte Rede über Normales, das passt immer. Stilistische Inkonzinnität aber gehört ins Repertoire des Redners, der sich um nicht-Alltägliches bemüht, so lautet die alternative Passung. Dass Roths Sujets exakt dieses Kriterium erfüllen, wäre als erste Erklärung für seine Tonart sublimer Fremdheit durchaus plausibel. Fremd und erhaben sind heilige Schriften. Sie kommen von weit her, aus den Tiefen der Zeit und stehen in einer sakralen Tonart, die wie ein Sound nachgeahmt werden könnte. Wie aber, wenn die offensichtliche Familienähnlichkeit, die Roths Texte mit heiligen Schriften, insbesondere der Bibel haben, nichts mit einer manierierten Imitationslust zu tun hätte? Gibt es eine tiefere, weiter führende Begründung? In der „Christusnovelle“ Riverside wird die Sprache zu einem zentralen Thema, genauer die Sprache, die sich zutraut, das Heilige präsent zu machen. Es geht um die steile Medienpräsenz: Text als Ort Gottes. Die Wechselreden und Dialoge der drei handelnden Personen bewegen sich zunächst durchaus im Rahmen des Üblichen. Der Text in „Riverside“ ist daher, anders als im späteren großen Roman „Sunrise“ auch nur in Maßen inkonzinn und alteritär. So drängt sich die selbstreferentielle Struktur einer Erzählung, die auf stilistisch angemessene Weise von heiligen Ereignissen handelt, als eigene Botschaft zunächst nicht weiter auf. Dann aber wird sich zeigen, dass die Novelle die Crux jeder heiligen Schrift zu ihrem zentralen Thema macht. Was ist Heilige Schrift? Heilige Schrift im emphatischen Sinn will das Heilige präsentieren, das heißt, es gegenwärtig setzen und dem Zeitstrom, dem sonst alles unterworfen ist, entreißen. Heilige Schrift will überzeitlich sein. Ihre Idee beschwört nichts weniger, als die Vernichtung jener Vernichtung, die zu den unabänderlichen Taten der Zeit nun einmal ohne wenn und aber zu gehören scheint. Diesen Anspruch erheben Heilige Schriften wie die Tora und der Koran. Für ihre Gläubigen sind sie bekanntlich präexistent, „vor aller Zeit“. Der Prolog des Johannesevangeliums, der dichteste, tiefste und folgenreichste Text des Neuen Testaments ist der locus classicus, wenn es um das Thema Zeit geht. Er beansprucht keineswegs selbst, ein heiliger Text im emphatischen Sinn zu sein, führt aber die Zeit als Grundkategorie aller Theologie vor. Am Anfang steht ein Begriff, der das Zeit-Thema performativ eröffnet: der Anfang. Johannes ruft den Schöpfungsbericht von Gen 1 auf und erzählt ihn neu. Dieser beginnt mit hebr. „bereschit“, einem Wort, das die Septuaginta, die authentisierte griechische Fassung, mit „En arché“, „Im Anfang“ übersetzt. Sprachlogisch gesehen, ist dieser Anfang nicht zweistellig, wie sonst alle Anfänge in der Zeit, die ein Vorher und Nachher kennen, sondern eine Singularität: der absolute Anfang, der Beginn des Zeitstrahls überhaupt, biblisch symbolisiert durch „Alpha“, den ersten Buchstaben des Alphabets. Dieser Anfang ist bei Johannes der Ort des „Worts“. Der Johannesprolog schickt „das Wort“, bevor es überhaupt als Schrift fixiert werden könnte, in den Kampf gegen die Zeit: „Im Anfang war das Wort“. Dieses „Wort“ wird mit Gott identifiziert. „…das Wort war Gott“, um dann sofort als etwas von ihm unterschiedenes neben ihn zu treten. Es war „bei Gott“. Sodann wird es zur Schöpfungsinstanz. „Alles ist durch das Wort geworden“ und bekräftigend inklusiv, „…ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist“. Als Höhepunkt des Gedankengangs gilt zu recht der Vers, in dem es heißt: „Und das Wort ist Fleisch geworden (lat. caro factum est E.N.) und hat unter uns gezeltet.“ (1,14) Von ihm ist der Begriff „Inkarnation“ abgeleitet. Wenn „das Wort“ dann im Folgenden mit Jesus identifiziert wird, tritt es in die Zeit ein, wird kontingent, und schlägt sein Zelt auf. Das Zelt ist im Unterschied zum Haus eine provisorische Behausung. Die übliche deutsche Übersetzung „…und hat unter uns gewohnt“ übergeht diesen Aspekt, der freilich, wenn es um die Zeit geht, durchaus wichtig ist. Die Inkarnation ist zunächst nur der Beginn einer Episode von 33 Jahren. Ein Hauptziel des Evangelisten ist aber das „Bleiben“ des inkarnierten Wortes. Dieses Verb wird zum key-word seines folgenden Evangelientextes. Christus war „Im Anfang“, vor aller Zeit, um dann nach Kreuzigung und Auferstehung das Zelt wieder abzuschlagen und in einen Himmel zurückzukehren, in dem Zeit nicht regiert. Nach Immanuel Kant ist die Zeit eine „reine Anschauungsform“, anders ausgedrückt: ohne die Zeitkoordinate können wir uns nichts vorstellen. Zeit ist a priori, immer schon, nie nicht. Ein Außerhalb der Zeit ist nicht imaginierbar. Aber - es ist denkbar, und zwar im modus der Negation. So ist der Begriff Ewigkeit, der nichts anderes besagt, als die Abwesenheit von Zeit, rein privativ. Das heißt: Er nimmt etwas weg (lat. privatio, Beraubung). Insofern sprengt er das, was im empirischen Normalfall als Wirklichkeit gilt, auf. Johannes operiert also mit einem negativen, unanschaulichen Zeitbegriff. Er bewegt sich damit ganz in den Bahnen einer monotheistischen Gottesvorstellung von einem Schöpfer, der wie das Vorzeichen vor einer Klammer regiert, welche die Welt bedeutet. Gott als Gegenüber der Welt wird zur radikalen Einzigkeit, zu einer ontologischen Singularität. Erst die Berufung auf ihn verschafft denen, die sich nach ihm ausstrecken, ein Widerlager. Für sie ist die Welt nach oben offen. Sie bestreiten Ludwig Wittgensteins ersten Satz seines „Tractatus“: „Die Welt ist alles, was der Fall ist“. Von der ungeheuren Pointe des Prologs, dass nämlich das ewige „Wort“ als Mensch „Fleisch geworden“ ist, wäre viel, sehr viel zu reden. Hier nur der Hinweis: Wenn das Wort nicht Schrift, sondern Fleisch wurde, dann stehen wir vor einem entscheidenden Medienwechsel. Der Islamwissenschaftler Harry A. Wolfson hat, offenbar in einer Analogie zum Begriff der Inkarnation, mit Bezug auf den Koran von einer „Inlibration“ gesprochen. Nach dieser Vorstellung ist Gott im Text einer Schrift, die er selbst geoffenbart hat, anwesend. Inkarnation will Inlibration überbieten. Der Begriff ist erst Mitte des vergangenen Jahrhunderts geprägt worden, die Sache, die er bezeichnet ist aber sehr alt. Das Inlibrationsmodell ist avant la lettre für die Entstehung des Monotheismus eine, ja die entscheidende mediengeschichtliche Voraussetzung gewesen. Dass aus dem gesprochenen Wort, das sonst im Winde verweht, haltbare Schrift wird, erscheint uns, die wir mit diesem Phänomen aufgewachsen sind, trivial. Keineswegs trivial aber ist, dass das damals junge Medium im alten Israel erstmals genutzt wurde, um das bis dahin gängige Gottesmedium, das Kultbild, zu ersetzen. Davon unten mehr. Auch das Neue Testament wurde und wird oft als Teil der christlichen Bibel nach diesem Modell als „Heilige Schrift“ tituliert, und das Christentum als „Buchreligion“. Sie ist aber für nicht-fundamentalistische Christen nur deswegen heilig, weil sie das kanonische Dokument für den Christus ist. Er ist der eigentlich Heilige, die Schrift nur, insofern sie von ihm berichtet. Die Evangelien und die anderen Texte des NT haben menschliche Autoren. Nur an einer einzigen Stelle lässt einer dieser Verfasser Gott selbst schreiben. Auch davon unten mehr. Zwei Wege: Gott im Text oder Nacherzählen der Heilsgeschichte. Ist es möglich, durch Narration das Heilige zu präsentieren? Das ist die Frage, die hinter Patrick Roths Novelle „Riverside“ steht. Es ist dieselbe Frage, die später im Roman „Sunrise“ in einer Art Kabinettstück beantwortet wird. Tabeas und Andreas, zwei Jesusjünger der zweiten Generation, sind auf der Suche nach Zeugnissen über ihren Christus, dessen Evangelium im Entstehen begriffen ist. So beginnt die Erzählung. Sie wollen das festhalten, aufschreiben, „…was unser Herr gesagt und wem ers gesagt hat. Wir sammeln die Worte derer, die ihm begegnet sind…Das aber als Zeugnis für die, die kommen werden und dieser Tage bekehrt werden sollen“ (S. 21) So kommt die Genealogie eines Evangeliums, der Übergang von mündlichen Überlieferungen zur schriftlichen Fixierung in den Blick. In Diastasimos, der Hauptfigur der Novelle, sind sie gerade an den Richtigen geraten. „Denn warum soll ich auf die Seite von Schreibern gehen, die ihre Predigt nicht im eigen Fleisch und Blut geschrieben finden, sondern in Tintenstrichen auf Papier? Gebt mir den Mensch zu lesen, wenn ihr Menschen lesen wollt.“ Eine ekstatische Doppelcodierung von Schreiben wird aufgerufen „im eigen Fleisch und Blut“ oder eben „in Tintenstrichen auf Papier“ (S.21) Diastasimos ist ein Zeuge, der nicht Zeugnis ablegen will. Er könnte - aber er will nicht. Warum nicht? Etwas sträubt sich in ihm. Was er erlebt hat, ist so beschaffen, dass es ihm nicht möglich erscheint, es einfach aufzuschreiben. Er hat sich verkrochen und nimmt es sogar hin, als ungläubig, aussätzig und von Gott gestraft zu gelten. Er gehorcht einem unausgesprochenen Verbot, vom Unaussprechlichen zu berichten, geschweige denn es aufzuschreiben. Das bringt ihn auf Distanz zu den braven Kundschaftern Andreas und Tabeas, die gerne alles festhalten und protokollieren würden. Die Präsenz des Heiligen in einem schriftlichen Bericht auszuliefern, erscheint ihm erst einmal als Frevel. Dass er dies verweigert, erzeugt die Spannung der Novelle, die sich, ganz klassisch, erst am Ende effektvoll auflöst. Diastasimos macht es spannend. Es ist ein wichtiges Qualitätskriterium von Literatur, dass ihre erzähltechnischen Strategien sich erst auf den zweiten Blick und im Nachhinein zeigen. Sie funktionieren ja auch nur, wenn die Personen ihrer inneren Logik folgen. Genau dies tut Diastasimos. In ihm haben wir es mit einem leidenschaftlichen Anwalt der Differenz zwischen dem Ereignis, das erlebt werden muss, und dem Versuch, dieses Ereignis in Schrift zu bannen, zu tun. Kaum dass Tabeas aus seiner Tragtasche Schreibtafel und Stilus entnommen und „…keine zwei Silben weit kommt, da brüllt es ihn an! Und herrscht die Lumpengestalt, die da hockt, die da aufblickt jetzt, herrscht beide sie an: -Also, was wollt ihr?“ In seinem großen Roman „Sunrise“ nähert sich der Autor dieser Botschaft von einer ganz anderen Seite. Es geht diesmal nicht um den Übergang vom authentischen Erleben und Handeln zur einer Schrift, das nachträglich festhalten will aber allenfalls vom Primat der göttlichen Praxis und Präsenz erzählen kann, sondern umgekehrt von der vorhandenen, auf wunderbare Weise aufgefundenen Heiligen Schrift, die erst dann, wenn das, was sie intendiert, Praxis wird, beglaubigt und legitimiert ist. Es handelt sich um die Tora, also Heilige Schrift, die in Israel nach dem Inlibrationsmodell gedeutet wird. Das zweite Buch von „Sunrise“ entwickelt seinen ersten Erzählstrang entlang einer präzisen Wegbeschreibung. Es geht, wie auch mehrfach in den Evangelien, hinauf nach Jerusalem: ein Pilgerweg. Über die Jesreel-Ebene nach Ofra, wo sich die Wege kreuzen, westlich davon Megiddo, wo Joschija „…einst starb, an der Wunde, die sich der Pfeil des Ägypters gebissen.“ (S.126) So wird es kommen. Der Pilgerweg, die Geschichte von Joschija, der das Verlorene fand, dazu auch die Geschichte von Eli und Samuel, (1Sam 3) der aus dem Schlaf heraus einer Stimme folgt, die ihn ruft, werden zu einem Erzählstrang kunstvoll verdröselt. Am Ende gewinnt die Erzählung sakramentale Qualität. Was ist Heilige Schrift? Erstaunlich und verblüffend ist es, wie dieses literarische Meisterstück zu einer nüchtern rekonstruierten religionsgeschichtlichen Mediengeschichte des Monotheismus passt, die ich hier als Exkurs einschiebe. Verblüffend vor allem deshalb, weil Patrick Roth diese noch gar kennen konnte, denn sie ist bisher nur in Bruchstücken, in entlegenen Texten, also so gut wie gar nicht veröffentlicht. Hier kann sie auch nur in einer groben Skizze angedeutet werden. Die Realgeschichte des biblischen Monotheismus ist eingewoben in die Traditionskontexte von Festen, passageren Riten und Opferkulten. Kultfiguren spielen dabei eine besondere Rolle. Rahel versteckt am Jabbok, wo Jakob seinen Namen Israel erkämpft, die Götterfiguren ihres Vaters Laban unter ihren Röcken (Gen 31,34ff). Bei näherer Betrachtung der bunten Götterwelt legt sich dieser kritische Gedanke in der Tat nahe. Alle Mythen geben diesen Gestalten eine bestimmte Funktion, die mit menschlichen Interessen korreliert. Diese Korrelation macht sie verdächtig. Die Götter sind selbstgemacht. Wenn ein Gott - wenn Gott ein echtes Gegenüber des Menschen sein soll, dann darf er nicht selbstgemacht sein. Ein selbstgemachter Gott ist kein Gott, er ist ein Götze. Was auf jeden Fall selbstgemacht ist, sind Götterfiguren. Sie tauchen nicht nur bei Rahel auf sondern auch bei Ezechiel, wo mit ihnen Unzucht getrieben wird, (16,17) und auch sonst mehrfach, besonders eindrucksvoll im Buch der Weisheit 13,1-15,19 und bei (Deutero)Jesaia 44. Mit orientalischer Freude am variierend wiederholenden Erzählen schildert der Prophet kleinschrittig die Produktion von Götterfiguren aus Metall oder Holz und ergeht sich in Schimpf und Spott über die Dummheit derer, die doch eigentlich wissen müssten, dass diese Götter ihre Existenz ihrer eigenen Arbeit verdanken. Ganz ähnlich erfahren wir in Ex 32,2 wie die Kinder Israels ihre Ohrringe abgeben, wie Aaron eine Skizze macht und dann das goldene Kalb herstellt, um das sie dann tanzen. Was ist ein Bild? Gottfried Böhm (1995) und Horst Bredekamp (2010) haben gerade erst den Problemhorizont für unsere Gegenwart neu vermessen und Hans Belting hat die Kunstgeschichte zur Bild-Anthropologie amplifiziert. Wo ist der Ort der Bilder? In unserem Kopf oder auf dem sog. Bildträger? In der barocken Illusionsmalerei machen die Maler den Betrachter zu ihrem Komplizen. Der muss, etwa bei Pozzos Scheinkuppel in der römischen Kirche Il Gesú, sich auf einen markierten Punkt am Boden begeben, sich seine Illusionierung also selbst erarbeiten, um dann im Weitergehen den dialektischen Spaß der Herstellung des Scheins und seines Kollapses zu genießen. So erzieht die intelligente Malerei (Michael Baxandall, 1996) das aufgeklärte Auge zum Misstrauen. Die konstruktive Seite des Sehvorgangs wird durch die performative Beteiligung des aktiven Betrachters ins Bewusstsein gehoben. Das mag erst einmal ein Scherz, oder die Vorführung eines virtuosen Spiels mit Perspektiven sein, zwingt aber auch zur Reflexion: Der Betrachter steht vor einer Wand und sieht nur informelle Schlieren. Erst im spitzen Winkel von der Seite betrachtet, fügt sich das Bild zusammen: Anamorphosen. Das Sehen kann gar nicht anders als sich, nach dem bekannten Hegelschen Bild, beim Sehen über die Schulter zu schauen. Berühmt ist Holbeins Bildnis zweier Diplomaten, „The Ambassadors“ in der Londoner National Gallery. Wer das formlose Gebilde, das im Vordergrund vor ihnen zu schweben scheint, „lesen“ will, muss die Frontalperspektive verlassen. Aus der schrägen Seitenansicht erkennt er dann einen Totenschädel. Die Geschichten vom Golem und die von Pinocchio, inszenieren den stärksten Bildzauber. Nicht zufällig sind diese Figuren, die von ihren Erzählern zum Leben erweckt wurden, dreidimensional. Vorsicht also bei dreidimensionalen anthropomorphen Skulpturen! Da fehlt nicht viel, und sie fangen an, sich zu bewegen. Sie strahlen die stärkste suggestive Präsenz ab: starke Bilder. Am präsentativen Potenzial dieser Güteklasse arbeitet sich bis heute das Entzauberungsgewerbe ab. Exakt sie sind es, die das zweite der Zehn Gebote verbietet. „Du sollst dir kein Gottesbild machen.“ Ex 20,4. Es stellt sich nun die Frage, warum die Entzauberung der Götterbilder nicht schon früher, nicht schon immer zur Vernichtung der Götter als Götter geführt hatte, wenn denn unsere These stimmt, dass die Polytheisten nicht wirklich dumm waren? Ich vertrete die These, dass dafür eine mediale Voraussetzung erforderlich war. Kritik mag es immer gegeben haben. Aber erst als ein anderes Medium zur Verfügung stand, konnte sich die monotheistische Alternative entwickeln. Dieses andere Medium war die Schrift. In der Religionsgeschichte gibt es ein Zeitalter des Kultbilds und ein Zeitalter der Kultschrift. Sie ist das neue Gottesmedium des jungen Monotheismus. Der Wechsel der Medien bedeutet weit mehr als den Umstieg auf ein neues Transportmittel. Er hat nichts weniger als einen kompletten Theologiewechsel zur Folge. Vom Bild und seinem Täuschungspotenzial musste die Rede sein, um die Bedeutung des scriptural turn, des Medienwechsels zur Schrift begreiflich zu machen, von dem die Religionsgeschichte spricht. Schrift ist zuerst einmal fixierte Sprache. Sprache aber ist, gegen alle biologistischen Warnungen vor dem bösen Anthropozentrismus tatsächlich ein anthropologisches Proprium. Wer dem Aristoteles, der den Menschen als das „Lebewesen das Sprache hat“ (Zoon logon echon) definiert, nicht glauben will, der glaubt vielleicht Konrad Lorenz und seinem Schulkameraden Karl Popper (Das Altenberger Gespräch, 1985, auch auf youtube), die mit Rückgriff auf Karl Bühlers Sprachfunktionen und in Abgrenzung zu den Tiersprachen herausgearbeitet haben, dass nur homo sapiens mit Hilfe seiner Sprache etwas orts- und zeitversetzt darstellen kann. Einfach gesagt: Wir können Abwesendes anwesend sein lassen. Ziemlich bemerkenswert, diese Simultaneität von Anwesenheit und Abwesenheit. Das Wort „Brathähnchen“ vor einem hungrigen Publikum ausgesprochen, wird bei diesem einen Speichelfluss auslösen. Irgendwie ist ein Brathähnchen präsent, aber auch wieder nicht. Wörter machen nicht satt. Zudem sind sie flüchtig. „O welch ein Wort entfleuchte dem Gehege deiner Zähne“. Die Erinnerung kann es vielleicht eine Weile verwahren, aber dann verweht es im Wind. Diesen Satz aber hat Homer als „geflügeltes Wort“ aufgeschrieben und daher besitzen wir ihn noch heute. Wer schreibt, der bleibt. Schrift bleibt. Eigentlich sind es dann vier Buchstaben, auf die der Schriftkult des alten Israel sich konzentriert: JHWH. Dieser „Gottesname“ ist so heilig, dass kein Frommer ihn ausspricht. Beim Vorlesen wird er mit Ausdrücken wie Adonai oder Elohim umschrieben. Im Text freilich bleibt er präsent. In diesem genialen Tetragramm treffen wir auf ein echtes hapax legomenon. Einen Ausdruck, der schon aus sprachlogischen Gründen radikal einzig ist. Ein weiterer, ein letzter Medienwechsel musste freilich kommen. Der Finger Gottes schreibt ein letztes Mal, diesmal nicht auf steinerne Tafeln, sondern in den Staub des Tempelbodens. Es ist das einzige Mal, dass Jesus, das Fleisch gewordene Wort, in den Evangelien überhaupt schreibt. Was Jesus, hier schreibt, wäre auf demselben Level wie das, wovon in Ex 32,18 berichtet wird: Heilige Schrift. Dort ist die Rede von „…Tafeln, auf die der Finger Gottes geschrieben hatte.“ In der Perikope Joh 8, 1-11 ist die Heilige Schrift das Thema. Es geht um die Frage, was sie wert ist, und was sie kann. „Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen“ sagen die Anwälte der Schrift, die Schriftgelehrten und Pharisäer. „Was sagst du?“ Sie hatten eine Ehebrecherin ertappt und herbeigeschleppt. Origenes, Chrysostomus, Hieronymus und andere Väter hätten gerne gewusst, was Jesus, wenn er denn schon einmal schreibt, da geschrieben hat. Der Wunsch ist durchaus verständlich, denn das, was Jesus selbst geschrieben hat, wäre ja wirklich Heilige Schrift im vollen Sinn des Inlibrationskonzeptes gewesen. Gegen diese durchaus begreifliche Neugier gibt es ein schlagendes Argument: Wenn wir es hätten wissen sollen, hätte der Evangelist es uns wissen lassen. Hat er aber nicht. Sie wird uns vorenthalten. Wir haben es hier wieder mit einer Lehr-performance zu tun. Jesus „zerschreibt“ die Schrift. Natürlich sind die Schriftgelehrten nicht zufrieden. Das ist für sie keine Antwort. So richtet Jesus sich auf, sagt den wunderbaren Satz: “Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“, und die Frau ist gerettet, bückt sich wieder und schreibt mit dem Finger auf die Erde. Vielleicht hatte Paulus eine Geschichte dieser Art im Sinn, als er formulierte: „Der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig.“(2 Kor 3,6) Jesus und die Schrift Roths absteigende Klimax ist eine anti-fundamentalistische Demonstration gegen den blinden Schriftbesitz, von dem alle Buchreligion immer bedroht ist. Seine Hermeneutik gipfelt darin, dass der König, eins mit dem göttlichen Willen, das Tauschprinzip aufhebt. Nicht rechnet, auf Vertrauen setzt. Sodann: Das verlorene Buch konnte nicht von einem gefunden werden, der es suchte. „Willst du finden, findest du nichts.“ (S.133) Das urmonotheistische Prinzip, dass Göttliches nicht Produkt menschlicher Bemühung sein darf, wird durchgehalten. Viertausend Jahre Gnadentheologie bis hin zu Schopenhauers Verabschiedung des Willens klingen hier durch: „Wo du nicht absichtlich suchst, ohne Willen hingerätst, so dass es zu dir kommt, sich dir offenbart…“ (S.134) da gibt sich der nicht selbstgemachte Gott zu erkennen: Offenbarung.
Fast wörtlich so „…unvermischt und ungetrennt“, formuliert später das Konzil von Chalcedon (451) in seiner bewusst paradoxen Aussage über die zwei Naturen Jesu, der göttlichen und der menschlichen. Es grenzt sich damit von allen Versuchen ab, die Spannung des sich entziehenden göttlichen Mysteriums nach der einen (nur Mensch, wenn auch ein besonderer) oder nur Gott in menschlicher Verkleidung, aufzulösen.
blog comments powered by Disqus |