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Ulrich Greiner
Laudatio von Ulrich Greiner auf Ulrich Schacht Preis der LiteraTour Nord 2016
21. April 2016

Lieber Ulrich Schacht,
liebe Frau Doering,
liebe Mitglieder der Jury,
sehr geehrte Damen und Herren!

Ich freue mich sehr, die Laudatio auf Ulrich Schacht halten zu dürfen, und ich hoffe, dass ich dieser Aufgabe gerecht werde. Sie wissen, ich bin in der Hauptsache Literaturkritiker, und die Aufgabe des Literaturkritikers besteht darin, das Erhebliche vom Unerheblichen zu trennen, das Gelungene vom Gescheiterten und die Ambition vom Resultat. Da es nun leider wesentlich mehr miserable als gute Bücher gibt, ist der Kritiker von Hause aus schlecht gelaunt. Nur selten findet er Anlass zum Loben, was dazu führt, dass er die Form der Lobrede bei weitem nicht so gut beherrscht wie die Form des Verrisses.

Es kommt hinzu, dass seit der Aufklärung die Kritik zum zentralen Instrument des Diskurses geworden ist. Die Kunstfigur des Fürstenlobs hingegen ist uns abhanden gekommen, jedenfalls hierzulande, womit ich nicht sagen will, Ulrich Schacht sei ein Fürst. Allenfalls gleicht er dem berühmten Jean Plantagenet, dem König ohne Land. Wenn wir das allegorisch verstehen wollen, so bedeutet es: Ulrich Schacht ist ein Intellektueller, der es gewohnt ist, ohne die Pfründe und die Bezugsrechte auszukommen, die einem ideologischen Grundbesitzer selbstverständlich zustehen – ich komme darauf zurück.

Ab und zu jedoch widerfährt dem Kritiker ein Glücksfall, der Glücksfall eines Buches, das ihn fesselt und ergreift. Ein Leser – und der Kritiker ist zuallererst auch ein Leser –, den das bestimmte Buch in seinem Leben erwischt, den es erleuchtet und verändert, der will mit diesem Erlebnis nicht allein bleiben, der möchte es mit anderen Lesern teilen. So ist es mir mit Ulrich Schachts Novelle „Grimsey“ ergangen. Doch nicht allein mir, denn ein Freund, dessen Urteil ich achte, hatte mir das Buch zum Geburtstag geschenkt – mit der Bemerkung, es sei die schönste Erzählung des Jahres. Also fing ich zu lesen an und war nach wenigen Seiten gefangen. Eine derart klare und leuchtende Prosa hatte ich lange nicht gelesen. Sie wirkte auf mich wie ein langer Atemzug, der das Herz weitet und die Sinne schärft.

Mein Interesse jedoch hatte zunächst damit zu tun, dass der Erzähler seine Reise auf die Insel Grimsey in Island beginnt, und zwar in der kleinen Stadt Akureyri. Sie liegt im Norden Islands, am Ende eines 60 Kilometer langen Fjords. Dort in der Nähe wurde 1857 der Schriftsteller Jon Svensson geboren. Mit seinen Kinderbüchern über die Brüder Nonni und Manni, die dramatische Abenteuer in der isländischen Wildnis erleben, ist er eine Weile lang berühmt gewesen, und noch 1988 gab es eine Fernsehserie im ZDF. Die heute weitgehend vergessenen Nonni-Bücher gehörten zu den Höhepunkten meiner Kindheit, und ich bin versucht, eine Laudatio auf Jon Svensson zu halten, unterlasse das aber, weil Ulrich Schacht vielleicht doch der bedeutendere Schriftsteller ist. Aus den erwähnten Gründen bin ich mal in Akureyri gewesen und habe dort das Nonni-Museum besucht. Ich konnte also mit Ulrich Schacht ein kleines Stück mitreisen und manches wiedererkennen. Auf der Insel Grimsey allerdings war ich nie.

An einem frühen Morgen, eben mit dem Flugzeug aus Reykjavik in Akureyri gelandet, geht der Erzähler durch die nette kleine Stadt. Er freut sich auf ein Frühstück, aber noch sind die wenigen Cafés geschlossen. Der Reisende ist offensichtlich nicht der Mann, den solche Unbill irritieren könnte. Er wandert ein bisschen umher, genießt den frischen und sonnigen Morgen, findet schließlich einen Mann, der ihn zurück zum Flughafen bringt, wo er die kleine Maschine nach Grimsey besteigt. Die 40 Kilometer nördlich von der Nordküste Islands gelegene Insel wird von rund hundert Menschen bewohnt, ist etwa fünf Kilometer lang und zwei breit, hat einen kleinen Flugplatz, eine Kirche, einen Leuchtturm und natürlich einen Hafen, wo die Fischer ihren Fang anlanden.

Es ist ein Ort von sprödem Reiz. Der Erzähler, der einen halben Tag hier verbringt, ist Fotograf, und er schildert uns die Szenerie mit einem geschulten Blick für das ästhetisch Besondere. Wir sehen das Grün der Wiesen, die zarten Blumen (es ist Sommer), die bescheidenen Bauten, die Felskanten, gegen die der Ozean brandet, und den Blick hinüber auf die fernen isländischen Berge.

„Eine dünne Wolkenschicht, die den Einfallswinkel der Sonne an diesem Punkt noch nicht durchschnitt, sorgte für dunklen Glanz bis kurz unter die Küste Islands. Ein letzter Streifen zwischen dem Meer und dem Ufer am Fuße der bläulich schimmernden Gipfelkette, fein wie eine unendlich lange Degenklinge und grell wie weißgekochter Stahl, brachte das Inselmassiv, das er nur mit Hilfe zweier Flugzeuge hatte überqueren können, auf dem Element, dem es entwachsen war, zum Schweben.“1

Schritt für Schritt wandern wir mit Ulrich Schacht über dieses Eiland, und jeder enthüllt ein neues Bild: den kleinen Jungen, der in einer Pfütze spielt, oder die Verkäuferin im Supermarkt, die ihn herzerfrischend anlächelt. Es sind nicht nur schöne Bilder, die er uns zeigt. Auf den Fensterbänken der Kirche entdeckt er Berge sterbender Fliegen, und auf der Wiese die weißgefiederten Leichen von Möwen. Er findet leere Patronen. Offenbar hat jemand zum Spaß in die Vogelschwärme geschossen. Der Anblick verstört ihn. Die toten Vögel scheinen wie aus den Lüften herabgestürzt, und es kommt ihm vor, als wären sie ein Sinnbild seiner Lebensträume.

Was wie ein Reisebericht beginnt, wandelt sich mehr und mehr in ein stehendes und zugleich bewegtes Bild. In diesem Bild sind Gegenwart und Vergangenheit zu einem großen Jetzt verschmolzen. Die Gegenwart: Das ist die Reise des Erzählers auf diese Insel; und die Vergangenheit: Sie taucht in jenen Bildern auf, wie sie wohl jedem von uns vors innere Auge kommen, wenn wir den Fluss der Gedanken durch den Kopf nicht stoppen, sondern es zulassen, dass unsere eigene Geschichte ihr Recht erhält.

Der fotografisch genaue Blick auf die Nähe geht unmerklich über in die Weite eines kulturkritischen Gedankenspiels, und dieses Gedankenspiel mündet wie selbstverständlich in einen Rückblick auf sehr konkrete Szenen seines vergangenen Lebens. Am Ende des Rundgangs über die Insel, als der Reisende sich der Brücke nähert, wo ihn das Schiff zur Rückkehr erwartet, sieht er einen Spielplatz mit dem üblichen Klettergerüst. Und er fragt sich, welche Spiele die ihm unbekannten Kinder von Grimsey wohl spielen würden. Vermutlich die kriegerischen Spiele, die er aus seiner eigenen Kindheit kennt. Er fragt sich: „Warum war der Frieden so reizlos?“ Seine Antwort lautet:

„Er konnte sich nicht daran erinnern, dass sie als Kinder jemals Frieden gespielt hätten. Er ist zu schwer, dachte er; zu kämpfen ist leichter. Wer kämpft, kann gewinnen, und wer verliert, hat immer noch das Ziel, für das er gekämpft hat. Frieden hatte kein Ziel, er war eins. Steckte man in ihm, geschah nichts mehr, und nichts war das Ende. Eigenartig, aber so es schien tatsächlich zu sein. Ob die Möwen deshalb vom Himmel geholt worden waren? Aus reiner Lust, ein Ziel zu haben, das nicht das Ende war? Jedenfalls nicht das eigene? Obwohl ihm dieser Gedankengang bis zu diesem Punkt logisch vorkam, erschien er ihm plötzlich nur noch monströs: Das ist es, was aus Revolutionen Diktaturen werden lässt, dachte er. Der Punkt, wo die Umkehr so schwer ist und doch so notwendig wird. Was konnte man sich für diese Einsicht kaufen? Frieden? Was war dieser Frieden wert?“2

Auch ich erinnere mich daran, wie wir als Kinder Krieg gespielt und aus Holzknüppeln Gewehre gebastelt haben. Die Indianer kämpften gegen die Cowboys, die Jungens vom Bornheimer Hang gegen die Jungens vom Riederwald. Auch wir haben nie Frieden gespielt. Was dem Erzähler auf diesem Spielplatz in Grimsey durch den Kopf geht, erinnert an die Devise von Gottfried Benn: „Erkenne die Lage, rechne mit deinen Defekten, gehe von deinen Beständen aus.“ Ja, wir begegnen hier einem Konservatismus, der voller Trauer jenen fundamentalen Defekt registriert, den Kant in das berühmte Diktum gefasst hat, der Mensch sei aus krummem Holz geschnitzt.

Ulrich Schacht allerdings gewinnt diese Erkenntnis nicht aus den Höhen einer Philosophie, sondern aus den Tiefen seiner Biografie, und auf diese Biografie muss ich jetzt zu sprechen kommen. Ulrich Schacht wurde 1951 im Frauengefängnis Hoheneck geboren, wo seine Mutter inhaftiert war, studierte evangelische Theologie, wurde 1973 wegen „staatsfeindlicher Hetze“ zu sieben Jahren Haft verurteilt und 1976 in die Bundesrepublik entlassen.

Soweit die Kurzfassung. Die Geschichte, die sich dahinter verbirgt, kann man in seinem Buch „Vereister Sommer“ nachlesen. Die Mutter, eine lebensfrohe junge Frau in Wismar, verliebt sich in einen sowjetischen Besatzungsoffizier und wird schwanger von ihm. Die beiden möchten heiraten, doch der Antrag auf Eheschließung wird brüsk abgelehnt. In ihrer Not heckt die Frau den Plan aus, mit ihrem Geliebten in die nahe gelegene britische Besatzungszone zu fliehen. Sie erzählt davon einer guten Freundin. Diese allerdings ist Mitarbeiterin des Geheimdienstes.

Um es kurz zu machen: Der russische Soldat wird an die Grenze zur Mongolei strafversetzt, die Frau wird laut Urteil Nr. 126 des sowjetischen Militärtribunals vom 18. 11. 1950 zu zehn Jahren „Besserungsarbeitslager“ verurteilt und auf die Festung Hoheneck im Erzgebirge verbracht. Dort bringt sie ihr Kind, also unseren Preisträger, zur Welt. Dieses Kind aber wird ihr nach drei Monaten weggenommen und in einer Leipziger Kinderheim der Volkspolizei gebracht, weil sich, so die menschenfreundlich klingende Begründung, das Neugeborene, im Unterschied zu der Gefangenen, nicht strafbar gemacht hatte.3 Jedenfalls noch nicht, denn dass ein solcher Lebensbeginn wenig dazu geeignet ist, einen gehorsamen Staatsbürger der DDR hervorzubringen, liegt auf der Hand, und Ulrich Schacht ist das ja auch nicht geworden. Er wuchs die ersten Jahre bei einer Pflegefamilie und dann bei seiner Großmutter auf, bis die Mutter im Rahmen einer Amnestie freigelassen wurde und nach Hause zurückkehren durfte.

Auch der Sohn gerät in Konflikt mit dem Regime. Da ist er schon Student. In dem Buch „Vereister Sommer“ erzählt er die Geschichte seinem russischen Halbbruder: „Ja, auch ich war im Gefängnis, und auch ich, wie meine Mutter, aus politischen Gründen. Aber ich war kein Opfer wie sie; ich habe die Diktatur, die ihr ebenfalls erlebt habt, die unsrige war ja ohne die eurige nicht zu denken, schon sehr früh, mit sechzehn, siebzehn bekämpft: unversöhnlich bis zu ihrem Ende. (…) Nein, nicht mit Gewalt kämpfte ich, aber mit Gedichten, Pamphleten, aufrührerischen Reden und der Gründung einer Widerstandsgruppe, die eine illegale Zeitschrift herausgab, ein Samisdatblatt, würde man bei euch sagen.“4

„Vereister Sommer“ ist deshalb ein so bedrückendes und bezwingendes Buch, weil Ulrich Schacht es gelingt, diese monströse Geschichte aus vielen Perspektiven zu erzählen. Wir haben ja nicht einen Lebensbericht in chronologischer Ordnung vor uns, sondern ein sorgfältig gebautes Mosaik aus Dokumenten und Briefen, aus Erinnerungen, Befragungen und Recherchen. Das Hauptmotiv ist die Suche nach dem unbekannten Vater, und das Unwahrscheinliche gelingt: Er findet ihn, und dieser Roman eines Lebens endet mit einem Versöhnungsfest in Moskau.

Die Mutter ist nicht dabei. Ein halbes Jahrhundert ist seit dieser frühen Liebe vergangen. Für die Mutter handelt es sich um eine fremd gewordene Geschichte. Und sie hegt den offenbar unbegründeten Verdacht, der frühere Geliebte sei an ihrer Verurteilung in irgendeiner Weise beteiligt gewesen. Der Erzähler jedoch denkt: „Ob Glück im Unglück oder Unglück im Glück: Ihr habt überlebt. Ist das nichts?“5 Und nun zitiere ich die folgende Passage aus dem Buch „Vereister Sommer“:

Der Mann ruft seine Mutter an:
Ich bin's“, sagt der Mann.
Wo bist du?“
Na, wo“, sagt der Mann, „in Moskau.“
Und? Gibt es was Neues?“
Und ob“, sagt er. „Es hat geklappt.“
Ja?!“
Wir haben uns getroffen.“
Schön.“
Natürlich“, sagt der Mann.
Na, bitte.“
Na, bitte?“, fragt der Mann zurück und denkt: Was soll das denn? Kann sie sich nicht freuen oder will sie nicht?
Ja.“
Also das ist mir zu wenig, wenn du verstehst.“
Na ja, jetzt hast du doch, was du wolltest.“6

Das ist die kurz angebundene Reaktion der Mutter. Dann erzählt ihr der Mann, wie gut der Vater aussehe, wie viel Kraft er noch habe, wie er vor ihm die steile Treppe ins Obergeschoss seiner Datsche emporgeeilt sei. Und dann heißt es:

Einen langen Moment hört der Mann nichts, und dann, überraschend weich und stolz in einem: „Er war ja auch damals schon ein toller Typ!“ Aha, denkt der Mann: Endlich!7

Auch Ulrich Schacht, so kommt es mir, vor ist ein toller Typ. Er lässt nämlich nicht locker, er will es wissen, unerschrocken geht er auf seine früheren Feinde zu und stellt sie zur Rede. Er spricht mit dem Richter, einem DDR-Freisler, der ihn verurteilt hat, er spricht mit dem Gefängnisdirektor seiner Mutter, er spricht mit den Stasi-Leuten. Derart gespenstische Szenen hat man selten gelesen. In dem Erzählungsband „Verrat. Die Welt hat sich gedreht“ besucht er den Mann, der ihn damals verhört hat, und er fragt ihn: „Ich möchte verstehen, wie man als anständiger Mensch zu so einer Arbeit kommt.“ Und es heißt:

„Wie das angefangen hat? Ich weiß nicht, der Hauptmann schien mit seinem Kopf fast unter den Tisch flüchten zu wollen, irgendwie zufällig.“ Er sei erst bei der Kripo gewesen, dann sei das Angebot der Staatssicherheit gekommen. „Ich fand das reizvoll, konnte auch schneller weiterkommen“, sagt er. Er habe es immerhin bis zum Major gebracht, und er fügt hinzu: „Das nützt mir jetzt gar nichts mehr. So ist die Welt, wenn sie sich dreht.“8

Mit diesem fatalistischen Resümee ist die Frau des ehemaligen Majors, die bei dem Gespräch am Tisch dabei sitzt, in keiner Weise einverstanden, und sie entgegnet: „Die Welt hat sich nicht gedreht, wir sind verraten worden.“9

Wie geht man mit solchen Erfahrungen um? Ulrich Schacht tut es auf eine doppelte Weise. Auf der einen Seite leistet er Widerstand, auf der anderen Seite entzieht er sich. Er kämpft – und er flieht. Und das alles gleichzeitig. Ich will versuchen, es zu erläutern.

Den Kämpfer Schacht habe ich ja schon erwähnt, und wir begegnen ihm abermals in seinen Notaten aus den Jahren 1983 bis 2011 „Über Schnee und Geschichte“. Wir sehen ihn dort als einen Intellektuellen, der sich dem Zeitgeist widersetzt. Er ist gegen die Eurokratie, weil sie keine wirkliche demokratische Legitimation besitzt. Er kritisiert den Anpassungskurs der Kirchen an die säkulare Welt, weil er damit das Wesen der christlichen Botschaft verfehlt sieht. Er kritisiert die Grünen und ihren Multikulturalismus, weil er an das glaubt, was man früher Abendland genannt hat. Mit anderen Worten: Schacht ist ein Konservativer, der allen ideologischen Erscheinungsformen der Welt- und Menschenverbesserung mit heiligem Zorn den Kampf ansagt. Und er ist ein gläubiger Christ, der im Sturz der kommunistischen Diktaturen den göttlichen Heilsplan erkennt. Wer das liest, sieht sich hin- und hergerissen zwischen Beifall und Widerspruch. Nein, Ulrich Schacht ist kein gemütlicher Mensch, er ist ein höchst streitbarer, ein anregender und ein aufregender Geist.

Wer so mit seiner Zeit im Widerspruch lebt, der benötigt Ruhepunkte, Fluchtorte, denn anders kann er sich ja nicht retten. Schon der vaterlos aufwachsende Junge baut sich Burgen der Fantasie, nicht nur geistige, sondern ganz reale. Er liebt es, am Strand der Ostsee zu spielen und Inseln zu bauen. In einer Erzählung erinnert er sich an diesen Jungen, den Jungen, „der Schwemmholz sammelte, Steine und Tanggeflecht. Der daraus Bollwerke errichtete, winzige Festungen, in die See hinein. Und der oben, auf die jeweilige Plattform aus Sand, Feuersteinbrocken und Grasnarben, eine Hütte setzte. Auch sie aus Schwemmholz. Bedeckt mit knisterndem Seegras. Eine Insel mitten im Meer. Mitten im Meer und seinen Stürmen aus Salz und Geheul über nasskaltem Abgrund.“10

Und später, längst erwachsen, wird er zum Inselsammler, der die Einsamkeit der polaren Gestade aufsucht, wo die Natur noch kaum berührt ist von der Gestaltungs- und Unterwerfungslust des Menschen. Er liebt die Reinheit der Farben, der Steine, des Himmels. Dass diese arktische Welt nicht die ideale Gegend zum Shoppen und Ficken ist, wie das bekannte Theaterstück lautet, gerade das zieht ihn an. Und es animiert ihn zu seinen Gedichten, die nicht selten die Form eines Gebets annehmen, eines Lobs der Schöpfung. Ich zitiere ein Gedicht aus dem Band „Bell Island im Eismeer“, wo er seine Wahlheimat Schweden besingt – denn Schacht lebt seit vielen Jahren an der südschwedischen Küste:

WIND JAGT VOM KATTEGAT in das
Geäst der Bäume, die mir Haus und
Hof bewehren, ein Brandungslärm dröhnt
unter Wolken über meinem Kopf dazwischen
Sonne die das nahe Meer poliert Milan
Figur in schöner Thermik Absturz und Wieder
Aufstieg überm Fels auf dem, vor weißem
Haus, mein Tisch steht, Wein und Brot
darauf und eine Stille, die das Licht
berührt: Welt ist nicht, wo die Welt
ist Welt ist grünes Element ist blaues
Atmen Rauschen Licht ist Stille
hinterm Wind. Haus ohne Haus.11

In seiner Novelle „Grimsey“ erzählt Ulrich Schacht – und das ist eines der vielen Erinnerungsbilder dieses wunderbaren Buchs – von der Begegnung mit einer Malerin. Sie geschieht auf Spitzbergen, sie kommen miteinander ins Gespräch, und sie fragt ihn, wohin die Reise gehe. Er antwortet:

Wir wollen noch bis zum Achtzigsten, vorher Blomstrandhalvoeya, da setzen wir Leute ab, dann Magdalenefjord, Däneninsel, Amsterdaminsel, vielleicht noch Moffen, kennen Sie sicherlich alles schon. Das ist die Paradestrecke, sagte sie und nickte, aber sie nützt sich zum Glück nicht ab vom Vorbeifahren. Wir gehen auch an Land, sagte er. Natürlich, sagte sie, doch auch das reicht nicht, Gott sei Dank. Hier ist Schönheit noch stark, der einzige Trost.12

Ein seltsamer Satz. Worin bestünde der Trost? Offenbar in einer Art von Weltflucht. Manche der von Ulrich Schacht geschilderten, gemalten Bilder wirken fast so, als wäre der Standort der schwarzen Gestalt auf Caspar David Friedrichs Bild „Der Mönch am Meer“ heutzutage die ideale Position, um sich aus der endlosen Unrast herauszuziehen und zur Ruhe zu finden.

Auf einer Reise zum Franz-Josefs-Archipel lernt der Erzähler ein Ehepaar kennen, das seit Jahren eine Wetterstation versorgt. Es heißt: „Die Station, auf der die beiden, wie eine Raumpatrouille am Rande der Galaxie, ihr glückliches Leben angesichts unendlicher Stille und Räume verbracht hatten, sollte aufgegeben werden.“13

Die beiden sind todunglücklich darüber, und der Erzähler berichtet:

Als er mit den anderen Expeditionsteilnehmern in den Hubschrauber kletterte und aus der aufsteigenden Maschine hinabsah auf das kleiner und kleiner werdende Menschenpaar vor seiner weltfernen, aber offenbar vollkommen sinnnahen Behausung kurz unter dem 82. Breitengrad, wurde es ihm für die Zeit einer bis heute dauernden Sekunde zum lebendigen Bild dessen, was gemeint gewesen sein könnte mit der Genesis-Geschichte vom Urpaar. Nur schien dieses Paar, das dem abfliegenden Hubschrauber und seinen Insassen im grellen Licht der Polarsonne noch lange nachwinkte, rehabilitiert zu sein. Es hatte die falsche Erkenntnislust überwunden und deshalb zurückkehren dürfen. Der bevorstehenden neuerlichen Vertreibung, das wußte er, war diese Deutung nicht gewachsen. Vielleicht, sagte ihm ein schrecklicher Verdacht, bestand der wahre Sündenfall des Menschen in dem unausrottbaren Wunsch nach Zeitlosigkeit für sein Glück.14

Ich fürchte, dass das zutrifft. Und doch: Es gibt ein zeitloses Glück, jedenfalls für den, der dieses Buch liest.

Am Ende seiner Reise nach Grimsey besteigt unser Erzähler das Schiff, das ihn hinüber nach Island bringen wird. An Bord kommt er ins Gespräch mit einem kleinen Mädchen und ihrem älteren Bruder. Er fragt nach ihrem Namen. Sie heißt Bergfridur.

Bergfridur, dachte er, was für ein eigentümlicher Name. Aber er klang ihm auffallend schön, auf eine ganz fremde, dunkle, friedliche Weise. Gern hätte er ihr auf die Stupsnase getippt, wie damals die junge Frau ihm, dem Zehnjährigen, der frisch operiert worden war und sich nun langsam erholte. Meist hatte sie Nachtdienst, und wenn alles schlief, kam sie in das Zimmer, in dem er lag, berührte ihn leicht an der Nase und fragte leise, bist du noch wach? Ja, flüsterte er dann selig, weil er wußte, daß sie ihn mitnehmen würde, mitnehmen für ein, zwei Stunden ins Nachtwachenzimmer. Dort hörten sie aus einem Kofferradio Musik aus Hamburg, aßen Kekse oder Waffeln und tranken etwas dazu, er bekam Limonade, sie goß sich Kaffee aus einer Thermoskanne in die Tasse.

Und am Ende heißt es: „Er wußte heute, daß er damals nichts anderes als seine erste Liebesgeschichte erlebt hatte.“15

Auch diese Szene ist ein Insel, eine Insel des Glücks, die kein Sturm je zerstören kann. Ich glaube, jeder kennt solche Inseln. Von Ulrich Schacht kann man lernen, sie zu hegen und zu schützen.

Ich gratuliere der Jury zu ihrer trefflichen Entscheidung, und ich gratuliere Ulrich Schacht ganz herzlich zu diesem Preis.

Die zitierten Bücher von Ulrich Schacht:

„Grimsey“. Eine Novelle. Aufbau, Berlin 2015

„Über Schnee und Geschichte“. Notate 1983 - 2011. Matthes & Seitz, Berlin 2012

„Vereister Sommer“. Auf der Suche nach meinem Vater. Aufbau, Berlin 2011

„Bell Island im Eismeer“. Edition Rügerup, Berlin/Hörby 2011

„Verrat. Die Welt hat sich gedreht“. Erzählungen. Transit, Berlin 2001

 

1Grimsey, S.40

2Grimsey, S.162

3Vgl. Vereister Sommer, S.38

4Ebd., S.97

5Ebd., S.197

6Ebd., S.197f

7Ebd., S.198

8Verrat, S.28

9Ebd., S.31

10Ebd., S.109

11Bell Island, S.56

12Grimsey, S.151

13Ebd., S.29

14Ebd., S.30

15Ebd., S.177f





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