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Ulrich Greiner
Gespräch mit Botho Strauß
Der folgende Text dokumentiert ein über einen längeren Zeitraum geführtes Gespräch. Es begann 1990, als Botho Strauß die Summe des Büchnerpreises, den er 1989 erhalten hatte, für die Lektüre des Romans Fluß ohne Ufer von Hans Henny Jahnn ausschrieb. Die besten Beiträge des Wettbewerbs wurden damals von der ZEIT abgedruckt. Das so entstandene Gespräch wurde in den Jahren danach immer wieder aufgenommen und am 10. Mai 2000 in einer Begegnung in der Uckermark, wo Botho Strauß heute lebt, aus Anlass des Buchs Das Partikular vertieft.

Strauß: O Gott, die Schwalben kommen wieder!

Greiner: Ja, und?

Sie nisten unterm Dach. Abgesehen davon, dass sie die weiße Wand bekleckern, es macht mich nervös. Es ist ein unglaubliches Geflattere und Gemache, Sie können sich das nicht vorstellen. Ich habe Netze gespannt. Ich konnte es nicht mehr aushalten. Ich dachte, was für ein Idiot bist du, du gehst aufs Land, in die Stille, und die eigentlichen Bewohner dieser Gegend kannst du nicht ertragen.

Könnten Sie auch in der Stadt schreiben?

Das tue ich nach wie vor. Erst seit kurzem ist es auch hier draußen möglich. Es wird zweifellos seinen Einfluss auf die Materie nehmen, mit der ich mich beschäftige, den Umgang mit Menschen. Ich nutze jetzt mehr die Erinnerung, den Traum, die imaginierte Beobachtung.

Sehen Sie fern, gehen Sie ins Internet?

Fernsehen, nein, das ist unerträglich. Früher habe ich viele Filme gesehen, jetzt nicht mehr. Ich möchte mir ein DVD-Kino einrichten, das ist ja leicht heute. Internet benutze ich natürlich, um Bücher zu kriegen, Antiquariate zu durchsuchen. Aber im Chat Room habe ich mich noch nicht zu Wort gemeldet. Die meisten, die sich dort äußern, beherrschen das Schreiben schlecht. Man muss ja schreiben dort.

Die Einsamkeit ist einerseits die Bedingung dafür, dass Sie etwas über diese Welt, diese Gesellschaft sagen können, andererseits erschwert sie es.

Die Frage lautet, ob man dafür disponiert ist, ein solistisches Dasein zu führen. Entweder findet man sich mit dem selbstgewählten Eremitentum ab, oder man spürt, und das ist bei mir der Fall, ständig den Mangel. Man lebt die Geselligkeitsaskese und wünscht, dass es anders wäre. Daraus entsteht eine Überempfindlichkeit bei der Berührung mit anderen Menschen. Wobei diese Überempfindlichkeit zu gewissen Übertreibungen führt, die aber manchmal besser dazu taugen, die Wahrheit aufzuspüren.

Sie empfinden sich eher als einen geselligen Menschen.

Ich bin ein nicht ausübender Gesellschaftsmensch. Die Arbeit des Schreibens ist ein Akt der vollkommenen Excludierung.

Ist das eine Last?

Wenn ich hier bin und längere Zeit allein, muss ich mich immer erst daran gewöhnen. Aber es schärft die Sinne, es schärft die Erinnerung. Außer dem Aktuellen ist alles andere lebendig.

Sie haben einmal geschrieben, dass die Freunde in der Abwesenheit gegenwärtiger sind.

Das ist wahr. Abwesenheit war für mich immer schon ein Mikroskop, eine scharf ziehende Linse.

Aber davor muss immer etwas gewesen sein.

War ja auch. Nur: Was neu hinzukommt, wiegt das Gewesene nicht auf. Die Gewichtung verändert sich.

Ihre Prosa nicht.

Doch. Der Grad der Gereiztheit hat abgenommen. Und ein grundsätzliches Moment ist mir vollkommen abhanden gekommen. Ich würde niemals mehr einer Dialektik folgen, die darin bestünde, dass aus dem Beobachten hervorginge, wie es denn anders sein solle.

Indem man sagt, wie etwas ist, gibt man zugleich zu erkennen, dass man nicht einverstanden ist. Sie sind in einer Schärfe nicht einverstanden, die Ihnen nicht nur Gegner einbringt, sondern auch nach Änderung verlangt.

Mag sein. Aber das gehört zur Geschichte des Leidwesens. Ich glaube, bei Menschen, die Pessimisten sind, europäisch geprägte Individuen mit der Fähigkeit zur Imagination, ist eine gewisse Leidensstruktur das Vorrangige.

Mit wachsendem Alter wird man konservativer, findet alles im Niedergang begriffen.

Niedergang war immer, das ist ein ständiger Topos des Geistes, seit der Antike. Das geht gar nicht anders. Letztlich ist doch die ganze Epik aus dem Gedanken entstanden: Die große Zeit liegt zurück. Ich denke nicht, dass man das konservativ nennen kann. Wir haben ja nichts, aber auch gar nichts, was wir in unserem persönlichen Lebens- und Zeitraum als besonders erhaltenswert ansehen könnten. Ich kann mit dem Wort konservativ nichts anfangen, weil es als ein politisch vollkommen platter Begriff verhunzt ist. Ich halte es für wichtig, sich zu einem geistigen, ästhetischen Fundamentalismus zu bekennen, der weiß, wie es in einem Vers von Gunnar Ekelöf heißt, dass in jedem Augenblick „der Schleier der Zeit“ zerreißen kann und man vor dem nackten Beginn steht. Es gibt eben nicht nur das Geschichtliche. Ich verstehe es eher heideggerisch: Man muss seine Gründe behalten, seiner Herkunft begegnen. Mit konservativ hat das nichts zu tun. Ich nenne es fundamental. Ich könnte auch elementar sagen. Es gibt verschüttete Grundelemente, die heute vielleicht nur in Sekundenbruchteilen von Erleuchtung wieder sichtbar werden. Jetzt ist der technische Überbau derart gewaltig, dass nur noch das Prinzip der Innovation Gültigkeit zu haben scheint. Aber es könnte doch passieren, dass man das anknüpfende, verbindende Element für genauso lebensspendend hält. Das geht nur auf dem Weg der Aufräumarbeit, aber nicht im Sinne des Erhaltens.

Worin besteht heute der Niedergang?

Die Dinge, die uns besonders nahe waren, allein die Geschichte der deutschen Literatur betreffend, rücken weg. Die Lesekultur ist starken Einflüssen von den Medien ausgesetzt. Sie ist in einer Massengesellschaft weiter verbreitet als in jeder Epoche einer exklusiven Bildungsschicht. Sie ist aber eben verbreitet. Was breit ist, ist nicht hoch oder dicht. Ich habe kein Bild davon, wie sich das entwickeln kann. Ich habe keine Ahnung, ob nicht diese Welt der Verbreitungen wieder eine andere gebiert. Ich denke grundsätzlich metamorphotisch: Das ist jetzt so, wie es ist, ich kann es auf keinen Fall ändern, ich kann mich lediglich unterscheiden. Ich bin ein Einzelgänger, ein Sonderling, und der ist am wenigsten berufen, eine schematische Niedergangstheorie zu entwickeln. Ich sehe die Verluste und zähle sie.

Welche Verluste?

Es gehen viele subtile Dinge verloren zugunsten trivialer. Das ist in der Sprache so, in den Geselligkeitsformen und anderswo. Aber wir tun jetzt, als müssten die elitären Dinge für alle gelten. Das ist das demokratische Missverständnis. Die Diffusion des Ausgezeichneten in die Masse, wie es die Soziologen nennen, gelingt nicht. Auszuweichen in die Affirmation und zu sagen, so wie es ist, ist es ganz toll und das müssen wir feiern, ist nur ein Ausdruck der Hilflosigkeit, ist Neo-Warholismus. Kann man ja machen, war in den siebziger Jahren ganz nett, warum also nicht noch einmal.

Die Masse, oder wie immer wir es nennen wollen, war immer vergleichsweise ungebildet. Das Neue ist nur, dass man sich dazu verhalten muss. Aber wahrscheinlich hat es nie eine so große Menge gebildeter oder informierter Menschen gegeben wie jetzt.

So ist es. Dadurch wird das Phänomen interessant. Der Verlust an genuiner Dummheit oder, um es positiv auszudrücken, an Einfalt ist gewaltig. Sie werden heute keinen einfältigen Menschen mehr finden, sondern Sie finden einen Kommunikationsbestandteil, durch den hindurchgeht, was allgemein geredet wird, der alles, was durch die Kommunikationskanäle fließt, auch durch sich selber hindurchfließen lässt. Eine klare Beschränktheit und einprägsame Form der Naivität finden Sie nirgends mehr, die ist überdeckt durch einen Firnis äußerer Intelligenz. Stattdessen finden Sie eine Schicht von sehr informierten Menschen, zumeist anästhetischen Gemütern, die keinen Sinn haben für das, was außerhalb von Information liegt. Informiertheit ist ja eine Sucht. Es gibt den Workaholic des Informiertseins. Die Zunge kommt kaum mehr mit in diesem Zwang des angepassten Redens. Das ist extremer als früher, als es noch verschiedene Berufe mit einer bestimmten Nomenklatur gab, in der man sich ausgedrückt hat.

Man findet die schon noch bei Handwerkern.

Da der Handwerker heute durch den Heimwerker ersetzt ist und der Baumarkt das zentrale Vereinigungsmittel, haben Sie durchweg ein und denselben Jargon. Das ist wie mit dem Silikonkautschuk: Sie können damit jede Fuge oder Unebenheit glätten.

Worin besteht die Elite? Es gibt sie doch.

Es gibt eine großes analytisches Wissen, eine Fülle oder Überfülle an Diskursen und Weltentwürfen. Wir müssen uns aber klar machen, dass sie samt und sonders einer Kultur angehören, die gegenwärtig nicht das Sagen hat. Dem gegenüber gibt es die Avantgarde der technisch-ökonomischen Kultur, die absoluten Vorrang hat, die sich auf das Machen, auf das Funktionieren, auf das Know how versteht, aber nicht durch geistige Leistungen glänzt.

Schätzen Sie das gering?

Überhaupt nicht, weil es in der Tat das eigentlich Verändernde in unserer Welt darstellt. Das Undurchdachte. Was geschieht, geschieht ohne irgendeinen philosophischen oder ästhetischen Reflex.

Was fehlt?

Das Schöne. Wissenschaftselite ist nur eine Frage des Zuchtprogramms. Das kann es nicht sein. In dem kleinen Restzirkel, der sich noch mit Literatur oder Theater beschäftigt, kann man doch nicht von Elite sprechen. Keiner der Autoren, die wir kennen, würde sich heute anheischig machen, das Ganze anzuführen. So wie etwa Carl Friedrich von Weizsäcker oder Gräfin Dönhoff vor Jahr und Tag in Ihrer Zeitung davon sprachen. Da gab es noch die Vorstellung, dass man das Schiff steuern könne, wenn man sich die ethischen Probleme bewusst halte. Diese Art von Moralismus, dieser Appell, sich am Portepee zu packen, hat nichts, aber auch gar nichts gefruchtet, es läuft alles seinen autonomen Innovationsgang. Da ist eine riesige Oberflächenstruktur, die sich mit größter Eigendynamik weiterentwickelt. Ich kann gut verstehen, dass junge Autoren sich sagen, da kann man nur mitmachen. Es ist allerdings ein alberner Pleonasmus, das noch einmal abzubilden.

Was aber dann? Sie stehen doch für das Ganze, sie erheben doch den Anspruch.

Den erhebe ich ernsthaft wirklich nicht. Ich muss jedoch an der Altmodischkeit des Begriffsmenschen, der man ist, festhalten, muss mir selber treu bleiben und nach alter Sitte durch den ästhetischen Anschein überzeugen. Aber doch nicht mehr durch das, was ich sage. Mein Beweggrund kann doch nicht sein: Jetzt rüttele ich die Verhältnisse alle mal durch. Da lacht man doch drüber.

Das verstehe ich nicht. Sie haben doch ein Ziel.

Nur insofern, als mich die Frage beschäftigt, was ist noch von der Regsamkeit des Menschen, wie ich ihn kenne und mit dem ich immer verbunden bleiben werde, was auch immer auf dem genetischen Feld geschehen mag, zu erwischen, welche Geheimnisse, Fluchtungen ins Unheimliche sehe ich – das ist für mich ein Lebensprogramm, wie es für Proust und andere gegolten haben mag. Aber ich kann daraus keinen Schluss ziehen für das Problem der Eliten in dieser Gesellschaft. Ich empfinde, dass die Abstraktionen immer fader werden. Mich interessieren fast nur noch die Phänomene. Man kann sie aber nicht immer entschlüsseln.

Das ist Ihre Furcht vor dem Allgemeinen.

Ja, die Furcht vor dem Theorem, vor der ungeheuren Wurzellosigkeit, davor, dass es zu luftig wird, wie alles luftig wird.

Das Allgemeine ist der Feind, es dringt ein wie ein Virus. Auf der anderen Seite sind Sie als Autor ohne das Allgemeine verloren.

Die Dichotomie des Allgemeinen und des Besonderen, wie schon von Goethe formuliert, ist in jeden eingepflanzt. Aber sie ist kaum zu beschreiben. Ich kann lediglich sagen, dass ich ein völlig versprengtes, kleines Literatur-Potential bin, in dem Hergekommenes und Gegenwärtiges (von der Zukunft wollen wir nicht reden) auf engstem Raum zusammengedrängt sind. Ein Energiekügelchen. Robert Musil hat einmal von sich gesagt, er sei zwar kein Erfolgsschriftsteller, aber doch auch keine Konventikelgröße. Damit meinte er einen, der von einer kleinen Schar von Leuten, mit denen man sich am Tisch trifft, getragen wird und mit der er in völliger Abgeschlossenheit seine Sache macht. Nicht einmal diese „Konventikelgröße“ gebe ich ab.

Fühlen Sie sich an den Rand gedrängt?

Wo anders soll man leben?

Sie sind einer der bekanntesten Autoren.

Das glauben Sie. Als Theaterautor vielleicht, eine Zeitlang. Das Theater hat mich inzwischen hinter sich gebracht. Die Kompetenz und die Empfänglichkeit sind in eine andere Richtung gegangen. Das ist ein ganz natürlicher Prozess der Ablösung. Auch wenn man persönlich den Schaden davon hat und sagt, das ist die Hälfte meiner Existenz, ich habe immer für das Theater geschrieben, ich konnte meine Prosa nur schreiben, weil ich zwischendurch Dialoge schrieb und eine szenische Fantasie entwickelt habe. Der Verlust wird mir in Zukunft Mühe bereiten. Aber es ist einfach vorbei. Ich kann nicht damit rechnen, dass in meiner Lebenszeit eine neue Sicht auf meine Stücke entsteht. Im Übrigen aber bin ich ein Erotiker, und am Theater heute dominieren – ästhetisch oder realistisch – die Pornografen. Ich interessiere mich für erotische Verknüpfungen und Wechselfälle, aber heute wird nicht mehr verknüpft und gewechselt, es wird immer nur die pornografische Seite der Sache zur Schau gestellt, immer noch mit dem ältesten aller Impulse, dem Épater le Bourgeois, obwohl der längst nicht mehr vorhanden ist. Das Theater ist gegenwärtig ein privatpsychopathisches Unternehmen, das maßgeblich von Illiteraten bestimmt wird, die überhaupt gar nichts lesen, nicht einmal das Stück, das sie gerade inszenieren, die also keinen literarischen Assoziationsraum haben. Das hat es nie zuvor gegeben. Entsprechend wird Sprache als lächerliches Requisit oder chorisches Phänomen benutzt. Die Fähigkeit, einen Dialog zu entfalten und zu einem spannenden Unternehmen zu machen, ist verschwunden, so wie ein Kunsthandwerk ausstirbt. Der Corpus des Theaters ist so angekränkelt, dass alle Parasiten leichten Zugang haben, das Tanztheater oder der Kunstmarkt oder Film und Fernsehen, es ist alles möglich. Das kann zu dem einen oder anderen interessanten Ergebnis führen, es ist aber nicht tragfähig bis ins Repertoire der Stücke hinein. Die großen Texte stehen turmhoch über dem, was die kindische Intelligenz dieser Non-Reader damit anfängt. Das Missverhältnis zwischen der Komplexität der Texte und der subversiven Konventionalität dieser Spätpubertierenden ist grotesk. Das ist schade, aber das letzte Wort wird es nicht sein.

Die Reaktion auf Ihr neues Buch war erstaunlich positiv.

Nun ja, jedenfalls anders als ich befürchten musste. So verschieden sind meine vorangegangenen Bücher ja nicht, dass es Grund gäbe, Wohnen Dämmern Lügen in den Orkus zu stoßen, wie es ja geschehen ist. Aber ich bin gegen solche Wetterschläge gefeit, weil ich schon alles mitgemacht habe.

Wie erklären Sie sich den Zorn, den Sie immer wieder erregen?

Es gibt dafür sehr verschiedene Gründe. Einen glaube ich zu kennen. Alles, was heute ans Transzendente und Theologische rührt, verabscheut unsere kritische Spaßintelligenz. Dass der Gedankenreichtum, der über die Jahrhunderte hinweg in der Theologie versammelt ist, heute so gut wie nie in die intellektuelle Auseinandersetzung geholt wird, halte ich für ein großes Versäumnis. Nun bin ich ja kein Theologe. Ich präzisiere lediglich das Detail aus einer transzendenten Gestimmtheit. Diese ist gegenwärtig kaum noch mitteilbar. Ich bezweifle, dass das auf die Dauer so bleiben wird.

Die Abwehr, die Sie erfahren, liegt vielleicht auch an dem abweisenden, herrischen Ton, den Ihre Prosa manchmal hat.

Herrisch? Bei meiner fragilen inneren Verfassung kann ich das nicht finden. Man hat ja auch Ernst Jünger herrisch, sogar einen Herrenreiter genannt. Dabei ist niemand ein so subtiler Beobachter von Weltzusammenhängen und Mythen wie Jünger. Nein, das ist unangebracht.

Sie setzen sich oft massiv in Widerspruch zum Zeitgeist.

Vielleicht bin ich widerspenstig, aber das ist nicht wirklich mein Grundimpuls. Das empfinde ich nicht so. Jedenfalls bin ich vielen ein missliebiger Autor. Den einen, weil hier ein Demokratiekritiker den Anschein erweckt, mit der Sache selbst nichts mehr zu tun zu haben. Den anderen, weil ich versuche, die kulturelle Erinnerung aufzuwecken, bis hinein in die Mythen und das Irrationale, das ja ungesagt überall zu seinem Recht kommt, in jedem Rockkonzert, in jedem Filmbesuch, überall. Wenn man es indessen beim Namen nennt und bekennerisch bejaht, wie ich das tue, wirkt das herausfordernd und unverschämt. Manchmal muss ich an Hofmannsthal denken, der sich in seinen späten Jahren fragte, wie er denn von einer Zeit, der er den Rücken gekehrt, erwarten könne, dass sie ihn verehre.

Ihre Texte sind doch nicht allein Texte des Rückzugs.

Mein Schreiben ist ein Nachvorneschieben, kein Rückzug. Ich habe hier keine Idylle gefunden, die ich selig schildern wollte, was im übrigen völlig ausreichen, mir aber nicht gelingen könnte. Das entspricht nicht meinem Temperament. In meine Texte sind seit je zahlreiche zeitgenössische Unmutsäußerungen eingewoben. Die kleine Zeile im vorletzten Buch, dass in seinem Herzen niemand Demokrat sei, hat sofort Alarm ausgelöst, obgleich ich nur sage, es gibt auch in einem jetzt lebenden Menschen Dinge, die nicht unbedingt verfassungskonform sind. Ist es die nebensächlichste Aufgabe von Literatur, dergleichen ins Gedächtnis zu rufen? Dass wir etwas älter sind als nur von heute, habe ich immer als selbstverständlich angesehen. Anbindungsstrategien sind für mich wichtiger als Bruch- und Aufbruchparolen. In der ästhetischen Entwicklung spielen Neuerungen keine bedeutende Rolle mehr. Ich selbst bin ein Transporteur, kein Neuerer. Vielleicht ist heute der Transporteur der Neuerer, das kann schon sein. Ich habe mich immer als einen empfunden, der durchdrungen ist von dem, was war, und es weiterträgt.

Sie haben ein besonderes Verständnis von Literatur.

Meist versuche ich, aus Quellen zu schöpfen, die nicht das allgemeine Literatur-Muster wiedergeben, ich möchte beglaubigen, dass man aus vielen Stimmen heraus lebt. Das ist eine Frage der persönlichen Vorlieben und der Resonanz. Nur weniges von den vielen Sachen, die ich lese, schlägt eine persönliche Saite an.

Aber Sie sind keiner, der seltene Briefmarken sammelt. Sie wollen und Sie haben Wirkung. Stellen Sie sich vor, die zehntausend Leser, die das "Partikular" gekauft haben, würden sich da unten auf der Wiese versammeln, bis hin zum Wald – eine ganze Menge.

So viel wie ein schlecht gefülltes Fußballstadion. Nein, das ist sehr wenig, sagt aber über die endgültige Wirkungsweise nichts. Ich bin kein Event. Deswegen bin auch im Zweifel, ob ich Wirkung suche, denn das müsste ich anders anstellen. Ich teile nur auf den verschlungenen Pfaden, auf denen ich selber am liebsten unterwegs bin, etwas mit, was seine Rezipienten schon finden wird. Es ist für mich unabänderlich, und das könnte man religiös nennen, eine Buchstabenfrömmigkeit, dass alles, was von mir existiert, nur durch das Buch existiert. Ich akzeptiere nichts außerhalb der Schrift. Ich meine sogar, die Literatur besteht nur für Literaten, für literarisch tingierte Menschen. Mein Leser ist mir zum Verwechseln ähnlich. Er ist nicht die Frau des Vorstandvorsitzenden. Er gehört nicht zur Elite. Es muss jemand sein, der völlig spiegelbildlich dem Autor entspricht. Einsamkeit plus Einsamkeit.



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