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Ulrich Greiner
Der Rebell des Gesetzes
Über Botho Strauß und seinen neuen Prosaband „Das Partikular“

Unter den deutschen Schriftstellern ist Botho Strauß der letzte Gesellschaftskritiker. Günter Grass, den man dafür halten könnte, weil er öffentlichkeitsnotorisch zur Stelle ist, sobald es etwas zu tadeln gibt, bedient lediglich jenes Reiz-Reaktions-Muster, das von der ehrwürdigen Figur des engagierten Intellektuellen übrig geblieben ist. Es fügt sich bestens in eine geile Medienwelt, die Kritik gleich welcher Couleur als Sensationswert positiv verbucht. Der öffentliche Diskurs gleicht einer permanenten Talk Show, wo en gros eingekaufte Meinungen meistbietend verhökert werden und im weißen Rauschen des schieren Dafürhaltens spurlos verdunsten.
Jüngere Schriftsteller haben diese Mechanik begriffen und ersetzen Kritik durch Affirmation. Ihr Senior heißt Reinald Goetz. In schönster Offenheit nannte er sein vorletztes Buch Abfall für alle. Genau. Ihm geht es nur noch ums Mitquatschen im Chatroom der einverständig Angeschlossenen. Der kürzlich ausgerufene Kampf zwischen „Erlebnis“ und „Bedeutung“ ist längst entschieden. Erlebnis heißt im Fall von Goetz et al. nicht anderes, als die Reize der Oberfläche abzuschmecken. Bedeutung, die nach einem altmodischen Kunstbegriff von Wahrheit nicht zu trennen wäre, ist passé. Die Literatur, die nach diesem Rezept entsteht, erfreut ihre Leser durch ein munteres Geradeaus-Erzählen, das sich, wie Botho Strauß einmal bemerkt hat (Die Fehler des Kopisten, 1997), durch eine „nachschöpferische Unbefangenheit“ auszeichnet: „Es ist, als liefen alle Schiffe nur noch ein in den großen Hafen der Literatur und kaum eines zöge noch hinaus auf offene See.“ Und er fügt hinzu: „Wo die Sprache bloß glatt und klug und federnd ausgeführt ist, bleibt sie heute unterhalb jeder Bewusstseinsreizung. Sie sagt es unter dem Niveau ihrer Gefahr und besagt deshalb nichts.“
Die literarischen Conferenciers, Zeitgeist-Agenten und Diskurs-Feuilletonisten formulieren immer besser. Der Brief, den Hofmannsthals Lord Chandos schrieb, um sich „wegen des gänzlichen Verzichts auf literarische Betätigung zu entschuldigen“, weil ihm die Worte „wie modrige Pilze im Munde zerfielen“, wird umso unverständlicher, je verständlicher die Schriftsteller sich geben. Und je länger man sie liest, umso unnotwendiger kommt Literatur einem vor.
Mit all dem hat Botho Strauß nichts zu schaffen. Vom offenen Meer, das er mit seinen Büchern besegelt, schickt er zuweilen Botschaften, von denen nicht immer klar ist, an wen sie sich richten. Jedenfalls nicht an Gesinnungsfreunde oder Leidensgenossen. Die hat er nicht, die will er nicht. Vielleicht richten sie sich an diejenigen, die imstande sind, die Hohlräume im Common-sense-Gefasel wahrzunehmen, und die ahnen, dass Literatur in Wahrheitsdingen radikal sein, die Oberfläche durchdringen muss. Und zwar nicht im Namen einer Tabuverletzung, von der Arnold Gehlen einmal bemerkt hat, sie gehe unter die Haut, aber nicht tiefer. „Jedes Tabu ist besser als ein zerstörtes“, sagt Botho Strauß mit der ihm eigenen apodiktischen Gebärde.
Es gibt derzeit keinen Autor, der ähnlich scharfsinnig, unnachsichtig, unversöhnt auf seine Zeit blickte wie Botho Strauß. Das gibt seinen Texten gelegentlich einen hochfahrenden, abweisenden Ton. Darin verbirgt sich die Einsamkeit desjenigen, der sich auf verlorenem Posten sieht, weil er nicht wollen kann, dass sein Standpunkt von einer Mehrheit geteilt wird: „Vielleicht bin ich nur zur Schrift gelangt, um der sozialen Aufgabe zu genügen, etwas zur Empirie und zur Zuversicht des Einzelnen beizutragen.“ (Niemand anderes, 1987)
Im neuen Prosaband klingen Trauer und Einsamkeit deutlich heraus. Wenn die autobiografische Skizze Die Fehler des Kopisten ein Buch des Lebens war, weil es auch von den glückhaften Erfahrungen des frischen Vaters und Hausbesitzers sprach, so ist Das Partikular ein Buch des Todes. In seinem zweiten Teil, einer Sammlung dialogischer Gedichte, sprechen zwei Liebende zueinander aus großer Ferne: „Immer leichter verstehen wir uns, in immer schöneren / Umschweifen gelingt uns zu sprechen, seitdem wir / durch die Siebe des Todes glitten wie Regen.“ Das Dilemma, dem Strauß immer aufs Neue nachspürt, ist die Frage, wie nah man einander kommen kann, ohne sich aus dem Auge zu verlieren. „Was wir sehen“, so hieß es in Fehler des Kopisten, „ist durch Nähe versengt. Um jeden Preis muss man wieder entfernen, erhöhen, verschleiern.“
Und hier, im Partikular, in seinem erzählerischen dritten Teil, heißt es von einer Gutsbesitzerin, die auf ihrem teilweise aufgelassenen Hof eine Art Landkommune beherbergt, sie habe ihren sterbenden Mann in den Armen gehalten und ihn als „unendlich leichte Fracht“ empfunden: „Sie meinte, dass sie ihn erst ganz zum Schluss als das fremde Wesen erkannt habe, das er ihr längst hätte sein können, wenn ihnen rüde Vertraulichkeiten nicht den Blick aufeinander verstellt hätten.“
Wieder, wie schon in Paare, Passanten (1981) und Wohnen Dämmern Lügen (1994), geht es um bizarre Paarbeziehungen, um die Liebe, die umso brüchiger wird, je fester sie ihr Objekt umfasst; und wieder erschrecken wir über das unauflösliche Ineinanderverhaktsein scheinbar harmloser Zeitgenossen, die zu den seltsamsten Selbstdemütigungen und Selbstüberhebungen imstande sind. Manchmal sind die Liebenden, wie es in der ersten Erzählung heißt, „einander Ungeschickte“. Die schöne junge Frau lässt ihren schwachen, erfolglosen Mann, der sich abends betrinkt, nicht im Stich:
„Sie rückt zu ihm, ohne ihn zu bedrängen, Wildtaube zu Gast in der dunklen Kiefer, ganz oben auf dem jüngsten, weichen Wipfel seiner Verzweiflung schwankt sie, aber gurrt nicht, schmiegt sich nicht an, möchte ihn nur ihre Nähe wissen lassen, etwas Nähe, wenn er sonst keinen Gefallen an ihr findet und ihre warme Seite verschmäht. Sie versucht sich seiner Traurigkeit anzupassen, ohne selbst nur um einen Hauch beschwert zu sein oder dunkel gestimmt. Die Schönheit, bei all ihren vergeblichen Versuchen, Bitternis sich einzuverleiben, wird diese dennoch niemals verstehen – weil sie eben die Schönheit ist.“
In der Fähigkeit, das Feuchtbiotop der Gefühle sorgfältig trockenzulegen, ist Strauß unübertroffen. Da ist zum Beispiel die wilde Gilda, die sich von ihrem Ludwig losmacht und dem Ich-Erzähler überraschend aufs Schönste entgegenkommt, in Wahrheit aber Ortwin will: „Der gesamte Schwung der Lossagung hatte sie über das eigentliche Ziel, nämlich den Ortwin, hinausgetragen.“ Am Ende kommt es zwischen den Männern zu einem grässlich komischen Spuck-Duell, und die allseits Umworbene unterwirft sich dem Sieger: „Da schmiegte sich Gilda auf einmal jämmerlich an den Stärkeren und sagte: ‚Töte mich!‘ Doch Ludwig wandte sich ab und erwiderte verächtlich: ‚Töte dich selbst.‘“
Diese hellen, scharfen Pointen kennen wir aus den Dramen und Prosastücken von Strauß. Aber diesmal ist etwas anders. Am Himmel, wie es in Stifters Nachsommer heißt, hat sich eine Veränderung eingefunden. Er ist dunkler geworden, der Sarkasmus milder, Schatten der Trauer und des Mitleids liegen auf der Szene. Vor allem im lyrischen Teil, wo man zarte, karge und am Rande des Schweigens balancierende Zeilen findet: „Ist nicht einer des anderen Verstummensgrund? / Kommt unser Stocken nicht ganz aus Verstehen?“ So spricht die Liebende zu ihrem Geliebten. Und der antwortet: „Ich habe jede Sigle so gesetzt, / dass sie entziffert gleich erlischt. / Spurlos verfällt das Infältige entrollt.“
Das ist auch ein Gegenprogramm: Es soll das Heilige dessen, was Liebe sein kann, nicht zerredet, nicht durch den zeitgemäß „tückischen Erklärungszauber“ versteinert werden. Das ideale Paar jedoch, das die Gedichte den „einander Ungeschickten“ entgegenstellen, ist geprägt von Entsagung und Verzicht, von der Erfahrung des Vergehens und der Vergänglichkeit:
„Ich sah den feinen Wipfelgrat, die schöne gestaffelte Heereslinie des Walds. / Ich sah das Geäder der leeren Linde am Ufer, / die Lunge des Nebels, und auf dem Hang mit den / wandernden Kühen stand mein Haus im grauen Morgen. / Es wird sein, wie ihr sagt: diese Mauern stehen nur da, / damit Ranken sie überwinden, Efeu und wilder Wein, / Dickicht, das sie schließlich zerbröckelt./ Der Frühling kommt und Hundert Jahre gehen zu Ende! / Ich denke mir nichts dabei. Fast nichts. / Schwache Rötung einer alten Wunde, die gut vernarbte. / Seit langem verlor ich nichts in der Zeit. / Verlange und ordne nichts in der Zeit. / Und wenn mir ein paar Tropfen Regen über die Wange / laufen, denke ich: So war‘s, als du noch weintest.“
Da ist nichts mehr von der herrischen Gebärde, deren Botho Strauß sich sonst oft bedient, sondern die Sehnsucht nach Klarheit, nach Schönheit, nach Form. Denn er weiß ja, wie es in Fehler des Kopisten heißt: „Ein Partikel im Strom des Partikularen zu sein, ist der Untergang des Künstlers. Er, Ausgeburt des Allgemeinen und sein Gegenspiel, kann ohne dieses nicht existieren. Wo alles exzentrisch ist, wird er zum Don Quijote des Realen. Oder zum Rebellen des Gesetzes.“
Botho Strauß spricht nicht, wie weiland Hans Sedlmayr, vom „Verlust der Mitte“, vielleicht ist ihm das Wort zu sentimental, zu ideologisch. Aber die Bemerkung, alles sei exzentrisch geworden, zielt in eine ähnliche Richtung. Die Allgegenwart des Perversen, Haltlosen ist längst zur Gewohnheit geworden, die Formlosigkeit derart üblich, dass sich der Begriff des Rebellentums verkehrt. Nicht der ist mehr ein Rebell, der gegen das Gesetz rebelliert, sondern der, der das verlorene, unkenntlich gewordene Gesetz sucht und befolgt.
„Das Gesetz, das ich dir gebe, geht nicht über deine Mittel. Es ist nicht in den Himmeln. Es ist nicht jenseits der Meere. Das Gesetzeswort ist ganz nah bei dir. Es ist in deinem Mund und in deinem Herzen, damit du es umsetzt in die Tat“ - so steht es im Deuteronomium, so übersetzt es Peter Handke im Motto zu seinem „Königsdrama“ Zurüstungen für die Unsterblichkeit. Diese Parallele zwischen Handke und Strauß ist nicht die einzige. Mit dem Unterschied freilich, dass Strauß weit skeptischer als Handke ist, was die Möglichkeiten der Gegenutopie betrifft: „Doch was du selbst erwiderst oder träumst, / du fügst es nur dem Kitsch der Freiheit zu“, heißt es im Partikular.
Wenn Botho Strauß früher einmal bemerkte, die Verwahrlosung komme aus der Mitte der Gesellschaft, nicht von den Rändern, so ist damit zugleich das Ziel seiner Expeditionen angegeben. Die Mitte oder das Gesetz oder wie immer wir es nennen ist heutzutage nur mehr an den Rändern zu finden, an der Rändern der Kontinente, der Sprachen, der Überlieferungen. So wie sich Strauß seinerzeit bei Robinson Jeffers Sukkurs holte (Fragmente der Undeutlichkeit, 1989), bei jenem amerikanischen Dichter, der sich einen Turm aus Stein an der pazifischen Küste erbaute und den Flug der Vögel besang, so wendet er sich im Partikular der keltischen Erzählung Gereint Son of Erbin zu. Sie steht in einer kymrischen Handschrift aus dem 14. Jahrhundert (Llyfr Coch Hergest), die zusammen mir einer früheren Schrift unter dem Titel Mabinogion ins Englische übersetzt wurde.
Es gehört zu den Eigenheiten von Botho Strauß, solche Spuren zu verwischen. Die beiden Liebenden seines lyrischen Dialogs heißen Geraint (mit a) und Edil, und es handelt sich offenbar um jenes Königspaar, von dem der unbekannte Dichter des Gereint Son of Erbin berichtet. Nachdem Gereint, der zum Kreis der Ritter um Artus gehört, heroische Taten vollbracht, Edil gefreit und das Königreich befriedet hat, ergibt er sich den Genüssen des Wohlstands und der Liebe derart, dass am Hof ein allgemeines Geraune anhebt. Edil, die davon hört, ist verzweifelt, und eines Sommermorgens, als sie ihn nackt in all seiner Schönheit neben sich schlafen sieht, vergießt sie bittere Tränen bei dem Gedanken, dass ihre Liebe am Verlust seines Ruhms schuld sein könnte. Gereint wacht auf und missdeutet die Szene als Beweis dafür, dass Edil seiner überdrüssig geworden ist. Er verlässt den Hof, um in unbekannte Kämpfe zu ziehen. Edil zwingt er dazu, vor ihm zu reiten und kein Wort mehr mit ihm zu sprechen.
Die Geschichte gehört in den Kreis jener Überlieferung, aus dem die Artus- und Parzival-Epen von Chrestien, Wolfram und anderen ihren Stoff schöpfen. Nachdem Parzival aus schierer Unwissenheit (also Formlosigkeit) Jeschute geschändet hat, begegnet er Sigune, die den toten Schionatulander in Armen hält. Er kam, wie es bei Wolfram heißt, durch ein „Brackenseil“, eine Hundeleine zu Tode; wie genau, wird nicht gesagt. „Enziffern wie Sigune das Brackenseil“, sagt Enid bei Strauß.
Diese Fährtenlegerei mag geheimnistuerisch sein, aber sie gehört zu den Reisen an die Ränder, die Strauß nicht zum Spaß unternimmt. Es geht ihm, wenn er in diesem Buch wieder und wieder über die Finsternisse der Liebe nachdenkt, nicht um Psychologie, sondern um jene archaischen Fakten, von denen die alten, vorpsychologischen Mythen handeln. Jeschute übrigens wird von Orilus, dem betrogenen Gatten, in Lumpen gehüllt und ebenfalls dazu gezwungen, getrennt von ihm zu reiten - diesmal hinter ihm. Die allzu große Nähe, die zur Abstoßung und Verstoßung führt (Enid); der grundlose, unerklärliche Tod (Sigune); das Leid, das die Unwissenheit verursacht (Jeschute) - das sind die Fragen, die Botho Strauß auch im Partikular wieder stellt.
Man muss diese Bezüge aus der Frühgeschichte unserer Kultur nicht unbedingt wissen, aber sie sind der Hintergrund, vor dem Strauß das Pandämonium seiner Paare und Passanten abbildet. Die alten Geschichten zeigen aber auch eine Veränderung an. Ihre Antriebskraft sind vorrationale Erfahrungen wie Mitleid und Leidenschaft, Trauer und Tod, und indem Strauß sich ihnen öffnet, erscheint seine Prosa, seine Poesie verwundbarer, auch trauriger, auch schöner als sonst, da man ihn nur als den Analytiker kannte, der mit dem Blitz seines Verstandes plötzlich eine Szene aufriss - wie jener unglückselig sich verliebende Architekt im Schlusschor (1991), der die nackte Auftraggeberin blitzartig erblickt und verliert.
Die Mitte an den Rändern zu suchen, ist riskant. Dort geht man leicht verloren. Denn Strauß, der entschiedenste Gesellschaftskritiker, den wir haben, spricht ja letztlich zu uns (wer immer dieser Plural am Ende sein mag), und er muss es in jenem Medium tun, das wir alle benutzen: die von der Wirklichkeit beschmutzte Sprache. Es gibt wohl kaum jemanden, der so skrupulös und bedacht formuliert wie Strauß, und das gibt seiner Prosa nicht selten etwas Angestrengtes. Da er die Plattheit scheut und Leichtfüßigkeit nicht seine größte Tugend ist, neigt er zu zum Diktum, zum Epigrammatischen, zum Verrätselten, und das aus- oder abschweifende Erzählen sieht er vom Verdacht des Beliebigen und schlecht Allgemeinen unterminiert. Recht hat er ja. Aber wer vom Rand her ruft, wird, wenn der Rand sich zu weit entfernt, Schwierigkeiten haben, sich verständlich zu machen.
Strauß kennt das Risiko selber am besten. Einmal sagt Geraint: „Einsamkeit, doch nur die äußerste, / ist noch einmal teilbar. / Man sucht sie nicht, um seinen Frieden zu finden, / sondern um seinem Dämon zu begegnen, / nackt und solus cum solo.“ Dieser Dämon ist nicht der Hausgeist von Botho Strauß, er geht auch uns an. Und die Frage an den Leser lautet lediglich, ob er noch eine Literatur will, die solche Risiken auf sich nimmt. Aber weshalb lesen, wenn nicht deshalb?

Botho Strauß: Das Partikular. Hanser Verlag, München 2000



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