Ulrich Greiner Das Spiegelkabinett des Dr. Strauß
Botho Strauß: "Die Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich"
Ein Mann und eine Frau (nennen wir es Zufall, nennen wir es Fügung) lernen sich kennen, sie verlieben sich, sie leben zusammen. Und je mehr, je länger sie einander lieben, um so besser kennt jeder den anderen, seine Eigenart, sein Wesen, samt aller Marotten. Das ist Liebe, was sonst. Es liegt so auf der Hand, dass es eine Kehrseite haben muss und hat.
Diese Kehrseite ist Thema des neuen Buchs von Botho Strauß. Es trägt den verführerischen Titel Die Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich. Aber die Betonung liegt auf „Nacht“. Im Dunklen, im unheimlichen Zwielicht spielt die Erzählung. Sie führt uns keinen erotischen Reigen vor, keine frivolen Zwischenfälle, wie wir sie aus Straußens Roman Kongreß (1989) in Erinnerung haben, sondern wir hören Geschichten der Täuschung und Enttäuschung, des Versäumens und des Verkennens, wir sehen Traumbilder, Vexierbilder, die uns an das ewig unlösbare Rätsel gemahnen: Wer bin ich? Wer bist du?
Das ist kein Spaß. In der ersten Szene von Dantons Tod sagt Julie: „Du kennst mich, Danton.“ Und der entgegnet: „Ja, was man so kennen heißt. Du hast dunkle Augen und lockiges Haar und einen feinen Teint und sagst immer zu mir: lieb Georg. Aber (er deutet ihr auf Stirn und Augen) da da, was liegt hinter dem? Geh, wir haben grobe Sinne. Einander kennen? Wir müssten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.“
Botho Strauß, der seinen Büchner kennt, treibt diese Erkenntnis hinein in den surrealen Schrecken. Körper verlieren ihre vertraute Form, zerfallen in Einzelteile, setzen sich neu zusammen. Ein Mann, Inhaber einer Künstleragentur, sitzt im Vorzimmer eines Kunden. Was sie ihm bringen dürfe, fragt die Mitarbeiterin, Kaffee, Wasser? „Bringen Sie sich selber“, antwortet er. Die Frau geht auf die Anmache umstandslos ein. Abends sitzen sie in ihrer Wohnung, sie hat eine Aufschnittplatte hergerichtet, viel Wurst, viel Fleisch. Sie bittet ihn, die Hand in seine Hosentasche zu stecken und sich zwischen den Beinen zu berühren. „Mit einem Aufschrei schnellte ich empor, aber ihre Hand hielt meine Linke eisern am Tisch zurück… Ich hatte ihr Geschlecht zwischen meinen Beinen… Ihre Pforte in meinem Schritt!“ Die Frau freut sich über „das Gelingen ihres hinterlistigen Kunststücks“. Sie hat ihm gegeben, worauf er in heimlicher Vorfreude aus war. Er wollte ihr Fleisch, und er bekam es, jenes Fleisch, von dem es an einer anderen Stelle heißt, es sei „Stellvertreter des Herzens im Handgemenge der Liebe“.
In solchen Passagen führt Strauß die Machbarkeitsfantasien der neuen Humantechnologie ins Groteske. Ohne Übergang wechselt die Erzählung vom hellen Tag in die Nacht des Alptraums, aus der Welt des Wahrscheinlichen hinüber ins Reich der Phantasmagorien. Ein Ehepaar wird von einem anderen „zu einem Teller Spagetti“ eingeladen. Der Abend verläuft unerquicklich. Zwischen Gastgeber und Gast entsteht Streit, ein Wort gibt das andere. Der Gast erhebt sich voller Zorn, im Begriff, die Wohnung zu verlassen. Begütigend wie weiland das HB-Männchen legt sich die Gastgeberin, ihres Zeichens „Verhaltensendokrinologin“, ins Zeug. Sie interpretiert die Aggressivität der Männer als fehlgesteuerte Funktion der „Humoralsäfte“ und überredet den Gast, sich einer Behandlung zu unterziehen. „Wir sollten als erstes Ihr Serotonin absenken.“
Dies geschieht, und der Mann erlebt in den folgenden Wochen verloren geglaubte Wonnen friedfertiger Zuneigung zu seiner Julia. Die beiden hüten das Haus der verreisten Gastgeber. Julia jedoch verlässt ihn ganz plötzlich und schlägt in der eigenen Wohnung alles kurz und klein. Der unerschütterliche Mann sitzt in den Trümmern und kommt zu dem Ergebnis, die Frau sei „einer inneren Vorspiegelung, einem thymotechnischen Versehen zum Opfer gefallen.“ Der Konflikt habe gar nicht wirklich stattgefunden, sondern nur „als ein von der Außenwelt vollkommen unabhängiges Gemütsgeschehen.“ Er beschließt, über die Sache nicht weiter nachzudenken.
Und doch treibt es ihn um. Die Nacht, die er mit Alice verbrachte – er weiß, dass Julia sie beide beobachtet hat, und schlussfolgert: „Julia hatte in dieser Nacht mehr gesehen als ich.“ Hat sie nun einen Vorteil? Kennt sie ihn besser als er sie? Er denkt: „Je länger zwei miteinander sind, um so häufiger werden die verstohlenen Blicke, mit denen einer den anderen wie einen Unbekannten betrachtet. Das Unbekannte an ihm geht aber gerade aus der Gewöhnung und Dauer der Zeit hervor, seinem unbegreiflichen Bleiben. Ich hatte erst nach vielen Jahren angefangen, Julia heimlich zu mustern und mich zu wundern, dass sie anwesend war und keine Erinnerung.“ Diese „stillen Reserven der Fremdheit“, wie er es nennt, sind ihm wichtig. Zugleich versetzen sie ihn in Unruhe.
Wir erkennen darin die probate Mischung aus Klugheit und Schlaumeierei. Bei anderen nämlich hat er den Durchblick. Über ein befreundetes Paar und dessen tragikomische Beziehung denkt er: „Es war ihnen der Mangel an Frage, an Staunen und Befremden ins Gesicht geschrieben, jener Mangel an Ungewissheit zwischen Mann und Frau, die sich eigentlich nach jeder Vereinigung erneuern muss.“ Bei einem anderen Paar (er bewundert die Schönheit der Frau und sieht in dem Mann einen „lichtunempfindlichen Tropf“) sagt er sich: „Welche Gnade hoher gegenseitiger Verkennung erhält so ein Paar!“ Wir haben es also mit einem Mann zu tun, der alles durchschaut und scheinbar unangreifbar ist. Aber dann kommt dies: „‚Du hast nichts verstanden‘, sagte Julia, ‚gar nichts verstanden.‘“ Das versteht er jetzt überhaupt nicht.
Das Besondere, das Verwirrende an diesen tückisch ineinander verhakten Erzählungen ist der Blick aus größter Ferne und zugleich intimster Nähe: wie mit einem Mikroskop hier, mit einem Fernrohr dort. Die konventionelle Totale aus bekömmlichem Abstand, die es dem Leser erlaubte, sich in der Geschichte einzurichten, fehlt zumeist. Wir haben keinen Überblick. Alles ist immer schon geschehen, vorbei. Die Nacht mit Alice – was da passierte, können wir uns leicht vorstellen, es muss nicht beschrieben werden. Was bleibt, sind Fehlreaktionen, Übersprungshandlungen. Strauß konzentriert sein immer wieder erstaunliches Können auf die Muster des Unbegreiflichen. Das scheint ein Widerspruch. Ein Muster wäre ja die Wiederkehr des Bekannten und also begreiflich. Da wir aber, obschon völlig auf- und abgeklärt, immer die von uns selber Unbegriffenen bleiben, handelt es sich um die Wiederkehr des Unbekannten. Auch das ist ein Muster.
In diesem Buch geschieht, was wir aus Träumen kennen: Das scheinbar Vertraute verrutscht ins Ungeheure, der „Tropfen der Deformation“, wie es einmal heißt, trübt die klarste Einsicht, dergestalt, dass der Mann des öfteren Frauen begegnet, die ihn an Alice erinnern und vielleicht sogar Alice sind. Er nennt sie die „Aliceoiden“. Und wir wiederum wissen nicht, ob es sich bei dem Mann, von dem hier ständig die Rede ist, um ein und denselben handelt. Er (oder ist es ein anderer?) beklagt den „unabsehbaren und alles zermalmenden Fluss der Unwirklichkeit, der unsere Fundamente unterspült und unsere Habe davonträgt, der jedes einzelne Haus, jedes Gesicht und jede Seele mit sich reißt oder entstellt, der alles zerteilt.“
Die Unterwelt, in die der Fluss mündet, ist jene Oberwelt, die wir kennen. Wer aufmerksam durch unsere Städte geht, der erkennt die Zeichen der Veränderung, urbane Brachen, seit langer Zeit eingerüstete Häuser, aufgelassene Läden, vernagelte Schwimmbäder, als ob eine zentrifugale Bewegung Einzelteile, die ursprünglich in der Mitte zu finden waren, an den Rand geschleudert hätte. „Abends saßen junge Mütter auf ihren Balkonen, nach getaner Arbeit saßen sie da mit hängenden Armen, auf den noch immer bepflanzten Balkonen, den Block entlang, spärlich verteilt über die Stockwerke, saßen da und heulten hemmungslos und herzzerreißend in den Abend hinaus.“
In dieser gnadenlos ewigen Gegenwart treiben die Paare und Passanten der Erzählung ihr gespenstisches Wesen, traurige Gestalten, zu keiner Trauer fähig, verloren im Niemandsland zwischen Vorher und Nachher, Oben und Unten. Die Unterwelt taucht aber wirklich auf, im Keller unter dem halb leeren Bürohaus, in dem der Mann seine immer schlechter gehende Agentur betreibt. Dort befindet sich eine fantastische, an Piranesi und M.C.Escher erinnernde Landschaft, wo eine Schrifttafel an Lord Dunsanys Erzählungen Idle Days on the Yann (1910) erinnert, dessen Bewohner die Zeit in Ketten gelegt haben: „Denn sie hätte im Hingehen die Götter erschlagen.“ Die Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich führt uns in das Spiegelkabinett des Dr. Strauß. Es ist ein faszinierendes System der Verweise und Brechungen. Oft erkennen wir uns selbst, oft andere, manchmal aber gar nichts und rennen gegen das Glas. Die unterschiedlichen Erzählhaltungen, durchsetzt mit zeitkritischen Kommentaren und fantastischen Exkursionen, machen die Lektüre nicht leicht, und nicht immer hält der narrative Bogen den Belastungen des Perspektiven- und Themenwechsels wirklich stand. Aber der Gedanken- und Bilderreichtum übetrifft das meiste des derzeit Geschriebenen. Unter den namhaften Schriftstellern der Gegenwart bleibt Botho Strauß einer der wenigen, die eine literarische Alternative bieten, eine Alternative zu jenem arglosen Narzissmus, in dem sich viele deutsche Erzähler gefallen, und zu jenem omnipotenten Realismus, mit dem immer wieder die Amerikaner verblüffen. Den emphatischen Anspruch, den man an Literatur stellen müsste, dass sie uns nämlich eine andere Welt des Wahrnehmens und Denkens eröffne, verkörpert Botho Strauß mit anhaltender Kraft.
Was übrigens den irischen Schriftsteller Lord Dunsany (1878 bis 1957) betrifft, so ist er eine der stillen Fährten, die Botho Strauß in seinen Büchern zu legen liebt. Im Internet kann man einiges aus dem Zyklus der Idle Days finden, darunter die Geschichte des Ich-Erzählers, der ein fantastisches Traumland bereist und einer Hexe begegnet. Er bittet sie, ihr etwas über dieses seltsame land zu erzählen. „Wie viel weißt du?“, fragt sie. „Weißt Du, dass Träume Illusion sind?“ - „Natürlich, das weiß doch jeder.“ - „Und weißt Du, dass das Leben Illusion ist?“ - „Das ist es natürlich nicht, Leben ist wirklich, Leben ist ernst.“ An dieser Stelle brechen die Hexe und ihre Katze in ein nicht enden wollendes Gelächter aus. Dass das Leben ein Traum ist, das weiß doch jeder.
Was aber, wenn es kein Traum, kein Spiel ist? Bei Botho Strauß gibt es die Szene, da Adam und Eva noch immer auf Erden unterwegs sind. Ihr letzter Dialog lautet: „Und wenn das alles nur ein Game gewesen ist?“ - „Und wenn es kein Game gewesen ist?“ Ja, wenn das Leben nur ein Spiel ist, steht es nicht gut um uns. Und wenn es keins ist, erst recht.
Botho Strauß: Die Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich. Hanser Verlag, München 2003