Home - Autoren der Gegenwart - deutschsprachige - Botho Strauß - "Die Fabeln von der Begegnung"
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Ulrich Greiner Ein Mann bezieht die Wohnung seines verreisten Freundes. Überrascht bemerkt er, dass noch jemand da ist, die Geliebte des Freundes. Er macht seltsame Erfahrungen mit ihr: „Wenn man ihr bloß die Hand gab, flüsterte sie: Super. Wenn man sie auf die Wange küsste, schnalzte sie mit der Zunge: Super! Wenn man ihre Brust kniff, schrie sie: Super, super! Eine Puppe war sie, aber platzte vor Lust aus allen Nähten.“ Das Mädchen ist ein Kunstmensch, eine Gynoide. „Ein fleischähnlicher Überzug machte ihren Körper dem einer jungen schlanken Frau zum Verwechseln ähnlich.“ Der Mann gewöhnt sich an sie. Zwar ist ihr Sprachprogramm nicht perfekt, aber gerade deshalb anziehend: „In dem leichten Verfehlen der ganz richtigen, der wirklich passenden Antwort lag sogar eine reizvolle Irritation, ein sprachlicher Flor und Flirt.“ Was Botho Strauß mit dieser Skizze entwirft, ist weniger eine technische Vision als vielmehr das spöttische Zerrbild gegenwärtiger Umgangsformen. Man hat die Liebeskunst verlernt und durch die flexible Beziehung ersetzt. Eine Beziehung, so lehrt diese Fabel, ist ein unbefristeter Vertrag, der erwünschte Eigenschaften in Austausch bringt, wie es etwa bei Partnerbörsen geschieht. Man kann sich also leicht vorstellen, dass ein gut gemachter Kunstmensch gewissen Erwartungen sehr entgegenkommt. „Die Fabeln von der Begegnung“ heißt der neue Prosaband. Die Akteure der klassischen Fabel sind meistens Tiere. Hier sind es Menschen, aber sie erscheinen nicht als Meister ihres Geschicks, sondern als Getriebene ihrer Interessen. Die Erzählstücke sind in der Regel nur wenige Seiten lang, und sie erfüllen Lessings Forderung an die Fabel, „dass die moralische Lehre in die Handlung weder versteckt noch verkleidet, sondern durch sie der anschauenden Erkenntnis fähig gemacht werde.“ Die anschauende Erkenntnis ist das Ziel von Botho Strauß. Wie schon in seinen früheren Büchern, vor allem in „Mikado“ (2006), knüpft er an die Tradition der lehrhaften Literatur an. Das heißt aber keineswegs, dass die Pointe dieser Miniaturen auf der Hand liegt. Sie erschöpfen sich nicht in ihrer unverkennbar kritischen Absicht, sondern sie riskieren einen unerschrockenen Blick auf das, was Menschen widerfährt, wenn sie einander begegnen. Diese Begegnungen sind ebenso alltäglich wie rätselhaft. Je länger man in diesem spannend unheimlichen Buch liest, umso fraglicher und fragwürdiger erscheint einem das Drama des gesellschaftlichen Mit- und Gegeneinanders, das man doch eigentlich zu kennen glaubt. Es gibt da zum Beispiel die Geschichte von einem Mann (er trägt den Namen Toss), der in dem erzählenden Beobachter die Vorstellung weckt, Toss sei „aus einem Jenseits voll schicklichen Benehmens herabgestürzt unter die ungeschliffenen Gesellschaftsmenschen von heute. Denn es schien unter ihnen ein galanter Tor zu wandeln, ein linkischer Gast, der die reicheren, jedoch beim Sturz zerbrochenen Manieren besaß.“ Mit „Sturz“ meint Strauß jenen Wandel der Gefühls- und Verhaltenskultur, der schon immer Thema seines Schreibens gewesen ist. In der Tat müsste sich jemand, der wenige Dezennien auf einer fernen Insel verbracht hätte und in unsere Gegenwart zurückgekehrt wäre, einigermaßen fremd fühlen. Weil dieser Toss die neue Entspanntheit missversteht, gelangt er dazu, ihr vorauszueilen: „Jedenfalls geriet er, sobald sich ein Gegenüber fand, das ihm vielleicht nur eine belanglose Frage stellte, sogleich unter den Drang, seine ganze Seele zu entblößen. Es ging so weit, daß er sich in ungeheure (und das heißt: seinem wehrlosen Gesprächspartner nicht geheure) aufrichtige Bekenntnisse steigerte, sein Innerstes billig verschleuderte.“ Toss kommt aus der Welt alter Förmlichkeit, die jetzt nicht mehr gilt. So gerät er in eine Übersprungshandlung, ergeht sich in haltloser Konfession. Seine Manieren sind zerbrochen. Solche Transformationen nimmt Botho Strauß in den Blick. Der Blick ist wach und kühl, er kommt aus der Distanz. Aber diese Distanz ist nicht herablassend, sondern voller Trauer. Sie birgt Verletzungen. Ein wiederkehrendes Thema ist der Liebesverrat. „Er dachte: In der Macht der Liebe, die wir miteinander teilten, stand auch dein Betrug. Es schien mir in helleren Momenten, als hättest du ihn nur herbeigeführt, um ihn mir zu verheimlichen.“ Und in einer andere Geschichte heißt es: „Jeden Tag gibt es einen Augenblick, da sieht er seine Frau so entschlossen auf sich zukommen, dass ihr Gang gar nicht anders enden kann: Hast du einen Augenblick Zeit? Ich muss etwas mit dir besprechen. Jeden Tag einmal stockt sein Herz in Erwartung ihrer Abschiedsworte.“ Sie antwortet erstaunt: „Warum sollte ich gehen?“ Er aber denkt: „Ihr Ton stimmt nicht. Sie wird wahrscheinlich keine Abschiedsworte an mich richten. Sie wird einfach gehen.“ Was andere Autoren in dicken Büchern ausbreiten, bündelt Strauß in knappen Szenen. Unbeeindruckt vom korrekten Geschlechterdiskurs beobachtet er den neuen Frauentypus, der völlig unsentimental und unempfindlich seiner Selbstverwirklichung entgegenstrebt. Einer der Männer, die uns in diesen Mikrodramen begegnen, beklagt den Verlust des erotischen Werbens und sagt: „Die Schönheit der Frauen ist unverändert da und blendet, aber das sie verschleiernde Benehmen ist verflogen. Und daher schwebt etwas Ausgestorbenes wie trocknes Laub um ihre hilflos nüchterne Schönheit.“ Und ein anderer von den Frauen Enttäuschter vermerkt, die Paare suchten nicht mehr die Leidenschaft, sondern „den entspannten Umgang miteinander, eine sexualisierte Form der Kameraderie. Solche Liebe meidet die Extreme, die heute ausschließlich für den Sport reserviert sind.“ Dieses großartige und widerspenstige Buch ist nicht das, was die Branche einen Page Turner nennt. Man liest es nicht in einem Rutsch, sondern verharrt gebannt im Anblick des Dunklen und Vieldeutigen. Botho Strauß führt seine Leser nicht zum gemütlichen Einverständnis, sondern zur unbequemen Erkenntnis. Der Widerstand gegen das Geläufige spricht aus jeder Seite. Der Widerstand hat auch mit dem Alter zu tun, mit der Erfahrung der entschwindenden Zeit, und in jedem, der diese Erfahrung kennt, werden einige dieser erzählerischen Essays ein sanftes Erschrecken hervorrufen. So wie der Erzähler erschrickt, als er eine Tages am Rand des Vierkanthofes, den er sich teilweise ausgebaut hat, eine ältere Frau erblickt. „Dort stand sie im dunklen Arbeitskittel wie eine unerlöste Wiedergängerin aus den Tagen, da auf dem Vorwerk noch viele Bedienstete und Arbeiter wohnten.“ Er nimmt an, dass sich die Frau in einem der verfallen Gebäude einquartiert hat, und er überlegt, ob er ihr ein Zimmer in seinem Anwesen anbieten soll. Aber bevor es dazu kommt, „gab auf einmal die Stunde nach“, wie es heißt, in diesem Augenblick öffnet sich der Raum der Vergangenheit, und ein Rausch der Erinnerung ergreift ihn. „Mein Herzklopfen wurde zu Hufschlag, eine Reiterschar stürmte über den Hügel, goldenen Staub aufwirbelnd, die große Schwadron unschuldiger Tage, die da zurückströmte, mich zu überwältigen mit den verworrenen Gelüsten der Frühe.“ Es ist ein Überfall der Erinnerung, wie er jeden Älteren von Zeit zu Zeit ereilt. „Es schien sich meiner innerster Inhalt über mich zu ergießen“, heißt es, und der Erzähler weicht vor dieser Frau zurück. Er erkennt sie nun als die „dunkle Amme an meiner späten Wiege.“ Der Zeitpfeil hat sich umgedreht, und der Alternde schreitet zu seinem Beginn zurück. Denn er weiß: „Zeit läuft auf verschlungenem Weg, mal nach vorn, dann wieder zurück. Sind wir nicht durch und durch wie noch einmal? Wenn der obere Kolben der Uhr den Sand deines Bildes verliert, so nimmst du von unten her wieder Gestalt an.“ Ein solches Erzählen auf hohem gedanklichen Niveau, eine solche Konzentration auf die Fundamente unserer Existenz, eine solche Expedition ins Unwegsame unserer Träume und Halluzinationen findet man bei keinem anderen deutschen Schriftsteller. Er schreibt keine Familienromane, keine Selbstfindungsgeschichten, und der übliche Realismus, der sich mit der Abbildung dessen begnügt, was wir alle irgendwie kennen, ist ihm fremd. Botho Strauß ist eine vollkommen singuläre Erscheinung. Ein Glück für die Literatur, dass es ihn gibt.
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