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Ulrich Greiner

Die Vertreibung aus dem Paradies

Martin Walser: „Der Augenblick der Liebe“

Das will man doch wissen, ob Martin Walser, der unwürdige Greis vom Bodensee, jetzt endlich Ruhe gibt – nach der skandalisierten Paulskirchenrede (1998), nach dem bösen Reich-Ranicki-Roman Tod eines Kritikers (2002) –, ob er nun in seinem neuen Roman, dem ersten, der nicht mehr bei Suhrkamp erscheint, wo der Siegfried-Unseld-Freund Walser seit Menschengedenken publizierte und agierte, friedlich geworden ist, oder ob er von Neuem Öl ins Feuer des ewigen Streits um deutsche Schuld und Schuldempfindung gießt.

Die Antwort: Wer den Roman mit dem Auge des Verdachts liest, wird alle widrigen Walser-Gedanken wiederfinden. Aber wer der Ansicht ist, es sei nicht die erste Aufgabe eines Schriftstellers, das Widrige zu meiden, der wird in ihm ein Buch erkennen, das mit literarischer Brillanz und insistierender Intelligenz der Wahrheit unserer Empfindungen nachgeht.

Es war Peter Handke, der in seinem gleichnamigen Roman (1975) „die Stunde der wahren Empfindung“ suchte: Sein junger Held Gregor Keuschnig, der die Gefühle verdächtigt und neu entdeckt, verspürt die wahre Empfindung beim Anblick eines Kastanienblatts, einer Kinderzopfspange und einer Spiegelscherbe, die er, auf einer Pariser Parkbank sitzend, vor sich im Sand liegen sieht.

Gottlieb Zürn ist so jung und so bescheiden keineswegs. Der ehemalige Immobilienmakler, der das Geschäft seiner Frau Anna übergeben hat und nun auf philosophischem Gebiet dilettiert und publiziert, hat die Sechzig hinter sich, und die wahre Empfindung ereilt ihn beim Besuch der hübschen Philosophin Beate, die ihn, von einer amerikanischen Universität kommend und zu Besuch in ihrer Heimat, am Bodensee aufsucht. Dieser meisterhaft beschriebene Augenblick des Sich-Verliebens, dieses blitzartige Ineinanderfallen ist der Anfang. Anna, die dem nachmittäglichen Besuch beiwohnt, sagt hinterher: „Jetzt nimm‘s nicht so schwer, vierzig Jahre, das kann man doch auf sich beruhen lassen.“ Genau das kann Gottlieb nicht.

Der Roman hat zwei Etagen, ein gut beleuchtetes Erdgeschoss mit einfachem Grundriss und ein etwas schwerer zugängliches Dachgeschoss, wo der Erzähler dem Ganzen Ziel und Richtung gibt. Denn unten ereignet sich die alte, die ewige Geschichte, die hier wie folgt verläuft: Der Wissenschaftlerin Beate, beauftragt, eine Fachtagung in Berkeley zu organisieren, gelingt es, Gottlieb dorthin einzuladen, und beide, die lange Monate damit verbracht haben, ihre Begierde brieflich und fernmündlich zu hegen, feiern in San Franzisko die Hochzeit ihrer Liebe. Doch während Beate restlos glücklich scheint, erfährt Gottlieb, „dass er Mühe hatte, so hoch zu fliegen, wie sie flog.“ Die Sehnsucht schwindet, indem sie sich erfüllt.

Als später Gottliebs Vortrag auf Ablehnung stößt, überfällt ihn das Heimweh, es zieht ihn nach Hause zu Anna. Die von Beate inszenierten Orgien sexuellen Glücks empfindet er als immer befremdlicher. Fluchtartig verlässt er das Liebeslager. Anna holt ihn in Stuttgart vom Flughafen ab. An einem Rastplatz schlagen sie sich in den Wald und verkehren aufs Schönste miteinander. Zu Hause genießt Gottlieb die Freuden des Heimkehrers. Da trifft ihn jäh ein Rückfall. Eines Morgens wacht er auf und sehnt sich nach Beate, will sie anrufen, verbietet es sich, ringt mit sich, bis ihn ein Brief erreicht: Beate hat geheiratet, ausgerechnet jenen Dozenten namens Rick, der seinen Vortrag so scharf kritisiert hatte. Am Ende bietet er Anna das „Sie“ an: „Sie sollte, sagte er, so tun, als könne sie sein Angebot ernst nehmen. Vielleicht könnten sie einander ja kennenlernen.“ Diese seltsamste Liebeserklärung enthüllt das Eingeständnis, dass Gottlieb nach aller Wirrnis nun weiß, dass er alt geworden ist.

Keiner, der sich je sinnlos verliebt hat, und keiner, der weiß oder ahnt, was das Alter bedeutet, wird diese in schöner Konzentration erzählte Geschichte lächerlich finden, zumal sich der alternde Mann mit einer so jungen Frau selber komisch genug vorkommt. Aber, so sagt er sich: „Was spricht dagegen, lächerlich zu sein?“ Und später: „Zum Glück ist man für das, was einem einfällt, nicht verantwortlich zu machen.“

Begeben wir uns nun auf den Dachboden der Geschichte. In jenem Augenblick in San Franzisko, da Gottlieb weiß, dass er zu Anna zurück will, denkt er: „Seine Sinne sind seine Philosophen!“ Soll heißen: Die wahre Empfindung ist die jeweils gültige Instanz einer Entscheidung, nicht das Gesetz oder die Moral. Das ist als Zitat nicht kennntlich gemacht, aber der Satz stammt von La Mettrie, und der bildet das Geisteszentrum der Erzählung. Julien Offray de La Mettrie (1707 bis 1751) war wegen seiner materialistisch-atheistischen Überzeugung, die er in seiner Naturgeschichte der Seele (1745) und in seiner berüchtigten Schrift Der Mensch als Maschine (1747) dargelegt hatte, ein den Herrschenden derart verhasster Philosoph, dass er aus Frankreich und dann aus Holland an den Hof Friedrichs des Großen fliehen musste, wo er bis zu seinem frühen Tod eine prekäre Existenz als eine Art Hofnarr fristete. Er war vergessen, bis ihn Friedrich Albert Lange in seiner Geschichte des Materialismus (1866) wiederentdeckte. Bis heute ist er eine Art Geheimtipp, obgleich die meisten seiner Bücher, herausgegeben und übersetzt von Bernd A. Laska, auf deutsch zugänglich sind (erschienen im LSR Verlag).

Über diesen La Mettrie geht Gottliebs Vortrag. Der Grundgedanke besteht darin, dass der Mensch die am höchsten entwickelte Selbstorganisation der Materie darstelle – ein Gedanke, der von der neuesten Naturwissenschaft wiederbelebt worden sei. Wenn es aber nur Materie gebe, dann leiteten sich alle anderen Vorstellungen (Gott, Religion, Moral) aus ihr ab. Es komme La Mettrie darauf an, „die Ketten der Vorurteile und Schuldgefühle zu zerbrechen.“ Und dann sagt Gottlieb: „Jeder Versuch, dich frei zu fühlen oder gar zu benehmen, mündete bis jetzt im Schuldgefühl. Die Gegenwart, deren Gefangener du von Anfang an bist, ist das Gute. Das immer so genannte, das immer anerkannte, das herrschende Gute. Du kannst den Mund nicht aufmachen gegen das Gute, ohne dir schlecht vorzukommen.“ Darin aber bestehe die Freiheit: Diesen Schuldgefühlen, die einem von außen aufgezwungen werden, für den Augenblick zu entsagen. „Eines Tages wird das Leben auf deine Träume hören. Du hast in deinen Träumen keine Schuldgefühle.“

Auf diesen Gedanken repliziert der erwähnte Rick in Berkeley: „Ein deutscher Intellektueller kommt an eine US-Elite-Universität und versucht unter dem Vorwand, er spreche über La Mettrie, den Deutschen einen Freispruch zu erschwindeln.“ Gottlieb entgegnet: „Schuldgefühle nützen nichts, verhindern nichts, weder vor, noch während, noch nach dem Verbrechen.“

Hier also kann, wer will, seinen Verdacht bestätigt finden: Dass Walser noch immer, wie ihm nach der Paulskirchenrede vorgeworfen wurde, an der Entsorgung der Vergangenheit arbeite. Das war und ist nicht sein Ziel. Was er bestreitet, ist die übliche und alles in allem bekömmliche Differenz zwischen persönlicher und öffentlicher Rede. Gottlieb Zürn jedenfalls, nachdenkend über die Berkeley-Katastrophe, ist davon überzeugt, „dass es eine Schuld gibt ohne Schuldgefühle.“ Ein bizarrer, verlockender Gedanke, dem wir in unserem Privatleben sowieso ständig Folge leisten. Aber kann er Maßstab fürs öffentliche Gedenken sein? Es ist offensichtlich, dass Walser das Fass, das er einmal aufgemacht hat, so weit er kann, leeren will. In Wahrheit ist es unser aller Fass.

La Mettrie habe, sagt Gottlieb, als der wahre Kolumbus die Unteilbarkeit unserer Existenz entdeckt. Bei seinem Meister hat er gelesen: „Es sprechen die Wälder, die Echos seufzen, die Steine weinen, der Marmor atmet.“ Und nun das Elend der Gesellschaft. Es ist die Vertreibung aus dem Paradies, der Gottlieb und seine Beate aus tiefstem Herzen opponieren. Für sie soll nur der Augenblick der Liebe gelten. Und er gilt, wie das Buch zeigt. Aber nur im Augenblick. Die Pointe besteht darin, dass die beiden ihre einstweilen letzte wahre Empfindung nicht miteinander teilen. Dass sie mit anderen glücklich werden oder bleiben (wie wir hoffen), ist tröstlich, aber traurig dennoch. Dem Terror der Verhältnisse entgeht keiner. Wie La Mettrie zugibt: „Was man geteilt hat, kann nie mehr ohne Krampf als unteilbar erlebt werden.“

Wie der Sprachkünstler Walser die beiden Erzählgeschosse miteinander verbindet, die Liebesaffäre eines alten Mannes mit einer jungen Frau im Licht des Atheisten La Mettrie deutet (und damit die untergründige Debatte über den Monotheismus) – das ist großartig, zum Widerspruch und zum Nachdenken reizend, das macht ihm keiner nach.

Martin Walser: Der Augenblick der Liebe. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2004

Erschienen in der ZEIT



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