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Ulrich Greiner

Walser, der Spezialist des Undeutlichen

Weshalb sein Roman "Tod eines Kritikers" nicht antisemitisch ist, aber trotzdem besser nicht geschrieben worden wäre

1.
Mit dem Foul, das die FAZ beging, als sie in einer 180-Grad-Wendung Martin Walsers noch unveröffentlichten Roman Tod eines Kritikers angriff und mit dem schlimmstmöglichen Vorwurf niedermachte, ist das Antisemitismus-Spiel total geworden. Wollte man dem Urteil der FAZ folgen, dann wäre jeder, der Walsers Roman nicht für antisemitisch hält, ein Antisemit. Schlösse man sich der Selbsteinschätzung Walsers an, dann wäre jeder ein Antisemit, der seinen Roman für antisemitisch hält. So gesehen, gibt es nur noch Antisemiten in Deutschland.

Im Unterschied aber zu jener Zeit, als die deutschen Antisemiten einen Massenmord sondergleichen ins Werk setzten, geht es jetzt um verletzte Eitelkeit, um schnöde Machtgier und Rachsucht, um die üblichsten Üblichkeiten des Betriebs – also um nichts. Weil aber der Betrieb, der ein Krähwinkel ist, sich wichtig nehmen und für die Welt halten muss, wirft er, damit es doch um etwas gehe, mit dem Antisemitismus-Verdacht derart um sich, dass es Judenhassern eine Freude sein muss. Der Streit um Walsers Roman ist der schlechteste Witz seit langem.

2.
Walsers Roman selber ist ein schlechter Witz, weil er andauernd Witze macht, darunter zu viele schlechte. Sein Gegenstand ist der Literatur- und Medienbetrieb, sein Personal besteht ausschließlich aus lächerlichen oder lächerlich gemachten Gestalten. Hauptfigur ist der Großkritiker André Ehrl-König, eine Reprise des Kritikers Willi André König aus dem Roman Ohne einander (1993), von den Journalistenkollegen "Erlkönig" genannt, in dessen Umarmung die Schriftsteller erlöschen.

Ehrl-König ist Star einer Fernsehsendung, in der er jeweils ein Buch vernichtet und ein anderes lobt. Seine Macht ist unermesslich, alle liegen ihm zu Füßen, darunter der Schriftsteller Hans Lach, der einmal sagt: "Man muss ihm persönlich begegnen, sonst hält man ihn nicht aus." Lach kann sich demonstrativer Gunstbeweise Ehrl-Königs rühmen und glaubt, sein Roman werde in der nächsten Sendung gelobt. Aber Ehrl-König vernichtet ihn. Der Autor dringt in die Party ein, die der Verleger zu Ehren des Kritikers gibt, es kommt zu Auseinandersetzungen, Lach wird vor die Tür befördert.

In derselben Nacht verschwindet Ehrl-König, man findet nur seinen Jaguar, drin einen blutbefleckten Pullover. Lach wird verhaftet. Lange verweigert er die Aussage, dann gesteht er den Mord. Kurz darauf behauptet die Kritikergattin, sie selbst, nicht Lach, habe ihren Mann umgebracht. Auf dem Höhepunkt der Verwirrung taucht Ehrl-König wohlbehalten wieder auf. Er hat eine lustvolle Woche mit einer ihn anbetenden jungen Gräfin verbracht. Jetzt stirbt der Verleger. Ehrl-König hält die Grabrede. Der Erzähler, so zeigt sich am Ende, ist mit Hans Lach identisch und flieht mit der Verlegergattin zu Liebeszwecken nach Fuerteventura.

So etwa die Geschichte: eine Mischung aus Satire, Pamphlet und Kolportage. Sie enthält einige scharfsinnig-boshafte und amüsante Passagen, in der Hauptsache einen Wust aus Abgeschmacktheit und Rachsucht. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind beabsichtigt. Der kundige Leser wird ein halbes Dutzend bekannter Prominenter in leicht verfremdeter und karikierter Form wiederfinden. Dass Walser öffentlich bekannt hat, bei André Ehrl-König handele es sich um Marcel Reich-Ranicki, wäre nicht nötig gewesen.

3.
Die FAZ, der das Buch vom Suhrkamp Verlag zum Vorabdruck angeboten wurde, hat ihre Ablehnung in einem offenen Brief an Walser mit dem Vorwurf des Antisemitismus begründet. Einer der Sätze, den das Blatt zum Beweis anführt, lautet: "Ab heute nacht null Uhr wird zurückgeschlagen." Mit ihm hat angeblich Hans Lach in der Mordnacht Ehrl-König gedroht. Hitlers Satz vor dem Überfall auf Polen gegen den polnischen Juden Reich-Ranicki zu richten, findet die FAZ ungeheuerlich. Sie verschweigt, dass der Satz im Roman einem Bericht der FAZ entstammt, den der Erzähler zitiert. Bei dessen Nachforschungen, die den Beweis der Unschuld seines Freundes Lach zum Ziel haben, findet er niemanden, der den Satz gehört hat.

Dasselbe gilt für alle anderen angeblich antisemitischen Sätze. Sie stammen von Personen, die der Roman als verächtlich charakterisiert. Einige von ihnen sind Opfer Ehrl-Königs und geben ihren Rachefantasien Raum. Die Schriftsteller, die in der Geschichte eine Rolle spielen, sind eher erbärmliche Gestalten, larmoyante Schwächlinge und Schwätzer. Hans Lach, eine Art Selbstporträt Walsers, trägt deutlich selbstparodistische Züge. Die einzige beeindruckende Figur ist Ehrl-König. Dass er ein Jude sei, ist schieres, von niemandem beglaubigtes Gerücht, das sich nach seinem Verschwinden zur Gewissheit verdichtet, getreu dem Satz, der in diesem Buch eine zentrale Rolle spielt: "Die Medien sind wahrheitsimmun." Insofern handelt der Roman vom traumatischen Bedürfnis einer Gesellschaft, sich den Juden zu erfinden, damit an ihm die antisemitische Probe vorgenommen werden könne.

Es gibt im Roman eine Szene, die wie die höhnische Vorwegnahme des jetzigen Streits wirkt. Hans Lach bekennt sich zu dem Mord, der nicht passiert ist, weil er ihn in Gedanken begangen hat und sich durch das Geständnis von der Gedankenschuld befreien will. Sofort beginnt in den Medien ein Getobe, bei dem der Antisemitismus-Vorwurf wie ein Tennisball hin- und hergeschlagen wird. Auch hier geht es nicht um Tatsachen oder gar um Wahrheit, sondern darum, Geländegewinn in der Schlacht der Meinungen zu erzielen. So wie jetzt.

Gegen Ende sagt der Erzähler von sich: "Manchmal beherrscht einen das Gefühl, ganz und gar in diesem Mediengewebe aufzugehen. Du bist nichts als ein Teil dieses Mitteilungszusammenhangs. Und es gibt außer diesem Zusammenhang nichts. Du wirst beatmet. Das heißt informiert. Du selber musst nicht mehr leben." Tod eines Kritikers ist also auch der Roman zu der Debatte, die er ausgelöst hat.

4.
Walsers Roman, wenn man ihn nur als ein selbstbezügliches Artefakt betrachtet, ist keineswegs antisemitisch. Antisemitisch wäre er, wenn er Reich-Ranicki kritisierte und karikierte, weil er Jude ist. Er kritisiert und karikiert ihn aber, obwohl er Jude ist. Damit allerdings ist das Problem nicht gelöst. Denn kein Roman, und dieser schon gar nicht, ist nur Artefakt. Er bezieht sich immer auch auf Wirklichkeit und stellt sie her, indem er erscheint. Er ist also auch für das verantwortlich, was er in die Welt setzt. Um eine juristische Parallele zu ziehen: An der Verbreitung übler Nachrede ist auch der schuldig, der sich ihren Inhalt nicht zu eigen macht.

Es gibt in diesem Buch eine besonders unangenehme Szene, wo die beiden Schriftsteller Hans Lach und Bernt Streiff in einer Kneipe über Ehrl-König herziehen. Lach spottet über den Schaum in den Mundwinkeln des Kritikers, und Streiff sagt: "Das ist sein Ejakulat. Der ejakuliert doch durch die Goschen, wenn er sich im Dienst der doitschen Literatür aufgeilt. Der Lippengorilla, der elendige." Es hilft nicht, dass hinzugefügt wird, beide seien völlig betrunken gewesen; auch nicht, dass der Erzähler, als ihm der Kriminalkommissar den Mitschnitt der Szene vorspielt, sagt: "Mein Gott!" und der Kommissar fortfährt: "Das möchte man, wenn man den und jenen in der Zeitung sieht, dem und jenem nicht zutrauen."

Es ist völlig klar, das Walser sich diese widerwärtigen Sätze nicht zu eigen macht, dass er sie im Gegenteil aufschreibt, um den latenten Antisemitismus bloßzustellen. Aber er hat diese Sätze erfunden, und damit sind sie in der Welt. Und sie können gar nicht anders als auf Reich-Ranicki bezogen werden. Innerhalb eines Romans ist alles erlaubt. Aber im Verhältnis des Romans zu seinen Lesern ist nicht alles erlaubt, schon gar nicht, wenn der Roman als Schlüsselroman auftritt und konkrete Personen attackiert. Es wäre besser gewesen, Walser hätte diesen Roman nicht geschrieben.

5.
Martin Walser hat auf den Antisemitismus-Vorwurf entsetzt reagiert. Er fühlt sich offenbar unschuldig. Das scheint kaum glaubhaft. Hätte er nicht wissen müssen, in welcher Jauche er rührt? Und hat er mit der Publikation dieses Romans nicht genau das wiederholt und verstärkt, was der Roman geißelt? In der Tat. Warum also? Das auf der Hand liegende Motiv ist Rachsucht, und sie ist verständlich, wenn man sich daran erinnert, wie Reich-Ranicki mit Walser und mit anderen Autoren umgesprungen ist. Reich-Ranickis begründungslose Vernichtungsurteile sind bekannt, seine jähen Stimmungsumschwünge, auch die unkontrollierten Hassausbrüche, die seine Freunde schockieren und seine Opfer in ohnmächtigen Zorn versetzen. Er ist wahrhaft nicht zimperlich. Auch der ZEIT hat er, weil sie ihn seinerzeit als festen Redakteur nicht engagieren wollte, antisemitische Motive unterstellt.

Aber das gibt niemandem, auch Walser nicht, das Recht, es ihm mit üblerer Münze heimzuzahlen. Nicht allein wegen des Schicksals eines Mannes, der dem Warschauer Ghetto mit knapper Not entkommen ist. Sondern vor allem der öffentlichen Hygiene wegen. Es gehört sich unter anständigen Menschen weder, mit Schmutz zu werfen, noch das Werfen mit Schmutz literarisch abzubilden und ihm dadurch Raum zu geben.

Generell sind Schriftsteller schlecht beraten, wenn sie sich auf die Ebene der Kritiker begeben. Zwar hat der Kritiker die Macht, mit schnellem Hieb und Stich zu verletzen. Aber sein Leben ist kurz. Von den Büchern des Autors wird noch die Rede sein, wenn der Name des Kritikers längst vergessen ist. Und es wäre kindisch, wollte sich Walser in diesem Zwist als den Verbrecher aus verlorener Ehre empfinden.

6.
Neben der Rachsucht aber gibt es ein zweites, edleres Motiv Walsers, nämlich den Rechtfertigungswunsch. Seit der Paulskirchenrede lastet der Antisemitismus-Vorwurf auf ihm. Er trifft nicht zu, denn Walser hat sich in zahllosen Texten mit dem Faktum Auschwitz auseinander gesetzt und hat sich beispielsweise als einer der Ersten für Klemperers Tagebücher und ihre öffentliche Wahrnehmung engagiert. Aber eine seiner hervorstechenden Eigenschaften ist der Trotz. Er will sich nicht vorschreiben lassen, was er fühlen und denken soll. Er weigert sich, die Differenz zwischen öffentlichem Diskurs und persönlicher Empfindung nachzuvollziehen. Noch seine jüngste Rede, die in Berlin, hieß Über ein Geschichtsgefühl, was streng genommen ein Wiederspruch in sich ist: entweder Geschichte oder Gefühl. Aber so ist Walser.

Mit seinem scharfen Blick nimmt er die Ritualisierung des öffentlichen Umgangs mit der deutschen Vergangenheit wahr und empfindet sie als verlogen. Dabei vergisst er, dass es strukturell einen Unterschied zwischen öffentlich demonstrierter und privat empfundener Trauer gibt und geben muss. Er hat zwar als Schriftsteller das Recht und vielleicht sogar die Pflicht, diesen Unterschied durch die erlebte und erlebbare Erzählung aufzuheben, denn wir als Leser sind weder nur Zeitgenossen noch nur Träumer, und die Literatur hat auch die Aufgabe, dem Gefühlten Raum zu geben, frei vom Druck des Gebotenen. Zugleich aber ist der Schriftsteller, wenn er sich in öffentlicher Rede äußert, gehalten, ihrer Form Genüge zu tun und sich Überschreitungen vor allem dann nicht zu leisten, wenn es um das heikelste aller Themen geht.

Es hat nach der Paulskirchenrede Angriffe gegen Walser gegeben, darunter Versuche, in den Romanen Antisemitisches zu finden, einen Mangel an historischer Bewusstheit und moralischer Korrektheit. Man hat es aber bei Walser nicht mit einer eingrenzbaren Person zu tun, sondern mit einer molluskenhaften Subjektivität, die sich bauchrednerisch vervielfältigen, sich nahezu unbegrenzt anderen Erfahrungen anempfinden kann. Walser ist auch ein Spezialist des Undeutlichen, weil "es" in ihm redet. Das ist der Grund seiner Produktivität, der Grund, weshalb wir ihm einige der eindrucksvollsten Romane verdanken, der Grund aber auch seiner überschießenden Formulierungskraft, die von Fall zu Fall in Schwatzhaftigkeit ausarten kann.

Dass Walser nicht schweigen kann, ist seine größte Schwäche. Im Konflikt mit Reich-Ranicki ist sie ihm zum Verhängnis geworden. Es mag sein, dass dieses Buch vor allem aus diesem Trotz zustande kam: Ich lasse mir den Mund nicht verbieten, ich zeige euch, wie weit ich gehen kann. Diesen Beweis hätten wir nicht gebraucht.

7.
Es bleibt erstens die Frage, weshalb der Suhrkamp Verlag auf die Idee kam, diesen Roman ausgerechnet jener Zeitung zum Vorabdruck anzubieten, der Reich-Ranicki seit rund dreißig Jahren angehört. Dass sie würde ablehnen müssen, war mehr als wahrscheinlich; dass sie so anständig sein würde, die Ablehnung auf normalem Weg, per Post oder Telefon, mitzuteilen, eine trügerische Hoffnung. Jetzt hält sich das Blatt zugute, es habe durch seinen Alarmruf die Nation vor Schaden bewahrt. Wahr ist aber, dass der Schaden dadurch nur größer geworden ist.

Es bleibt zweitens die Frage, weshalb Walser seinen Verlag, den Suhrkamp Verlag, zu dessen Autoren Reich-Ranicki seit Jahr und Tag zählt, sehenden Auges in einen unlösbaren Konflikt getrieben hat. Er könnte eine gefährliche Krise auslösen. Unterdessen nämlich hat Reich-Ranicki Suhrkamp aufgefordert, den Roman nicht zu veröffentlichen: "Der Verlag Benjamins, Adornos, Blochs, Celans darf ein solches Buch nicht verlegen."

Natürlich darf er. Da inzwischen wahrscheinlich alle Betroffenen und am Betrieb Interessierten in Kenntnis des Manuskripts sind, ist Walsers Mitteilungsbedürfnis ebenso Genüge getan wie dem Skandalhunger des Betriebs. Aber ein Buch, selbst ein unnötiges, muss erscheinen dürfen, ob bei Suhrkamp oder anderswo. Dann können auch die, die den Roman vorab verurteilt haben, ihn wenigstens hinterher lesen.

Die einfachste und vermutlich am ehesten zutreffende Antwort auf die beiden Fragen lautet: Die Beteiligten haben unter Missachtung der moralischen Hygiene und zwecks Mehrung ihrer medialen Macht, die sich darin ausdrückt, an der Spitze des Rumors zu stehen, das Antisemitismus-Spiel gespielt. Es ist ein schmutziges Spiel.

Martin Walser: Tod eines Kritikers. Roman. Suhrkamp Verlag 2002



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