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Ulrich Greiner

Martin Walsers Achterbahn

Sein Roman „Der Lebenslauf der Liebe“ ist ein mindestens ungewöhnliches Buch

Was soll man dazu sagen. Kann man eine Achterbahn rezensieren? Aber eine Achterbahn, die dem vergnügungssüchtigen Fahrgast eben noch den schönsten Blick auf die bunte Menschenwelt gewährt und ihm kurz darauf, während er kopfüber und bauchunter in die Tiefe stürzt, die Currywurst aus dem Schlund presst, ist nichts gegen Martin Walsers neuen Roman. Ehrlich gesagt ist es eine Ewigkeit her, dass ich Achterbahn gefahren bin, und die letzte Currywurst hat mir auch nicht geschmeckt.

Nie war Walser so deftig und derb, selten so geschwätzig. Über Seiten und Seiten ergießt sich ein verbaler Sturzbach, schwemmt und reißt alles mit sich fort, bis der Leser nur noch um Gnade winselt. „Durfte sie sich heroisch vorkommen? Sie hatte das Gefühl, sie dürfe sich heroisch vorkommen. Aber da sie solchen Wörtern gegenüber immer unsicher blieb, wusste sie nicht sicher, ob sie sich wirklich heroisch vorkommen durfte.“

Bei Gott, das kann, das muss man kürzer sagen. Und am Ende, als Susi, der nunmehr 68 Jahre alten Heldin dieser ebenso banalen wie monströsen Geschichte, abermals ein Beischlaf mit ihrem 30 Jahre alten Geliebten und Ehemann, dem rechtgläubigen Moslem Khalil, geglückt ist, lesen wir: „Er würde jetzt seine rot gleißende Adidashose mit den breiten grauen Streifen und das Unterhemd mit Halbarm anziehen, sie die fast bis zu den Knien reichende Bleylehose und oben etwas Altes von Jil Sander.“ Will man das wissen? Und es ist ja beileibe nicht die einzige Bleylehose neben all den Guccigürteln und Pradataschen, es kommen ja noch Katzenpipi und Männerkacka und tausenderlei Sprachnippes und -kappes dazu.

Also gut, worum geht es. Ort der Handlung: Düsseldorf in den Jahren 1987 bis 1999. Personen: Edmund Gern, Rechtsanwalt, Immobilienjongleur und Börsenspekulant, zu Beginn 57 Jahre alt; seine Ehefrau Susi Gern, 56 Jahre alt; die beiden Kinder Andreas und Conny; außerdem (neben allerlei unregelmäßigen) die festen Geliebten Edmunds, die alliterierenden Damen Pudlich, Prellmann und Proll; schließlich die Zugehfrauen und Haushälterinnen Susis, Frau Oschatz, Frau Tönnissen und Frau Thomasius, sowie Susis durch Anzeigen und andere Suchbewegungen fallweise akquirierten Männerbekanntschaften (zu viele, um sie hier zu nennen) bis hin zum bereits erwähnten Khalil; daneben ein rundes Dutzend anderer mit vorstehend genannten Personen verwandtschaftlich oder beruflich oder zufällig verbundener Menschen, zumeist mittelständisch-düsseldorfischer Herkunft, aber auch Ausländer (Jugoslawien, Marokko), ein Jude, zudem Vertreter der Halbwelt und der Unterschicht.

Susi Gern, die Heldin des Roman (das Wort ist hier in gewissermaßen vollster Bedeutung zu nehmen), liebt für ihr Leben gern: „Ihre Sehnsucht: einem Mann so zustimmen zu können, dass nur noch dieser Mann übrig blieb. Am liebsten ginge sie auf in einem anderen. Am liebsten macht sie sich zu eigen, was der denkt, wie der denkt. Alles so erleben wie der. Von sich erlöst werden. Für eine Zeit.“ Man sieht, da ist eine große Stärke, die aus einer großen Schwäche kommt. Allein: Edmund, die Liebe und das Glück ihres Lebens, ist zugleich die Quelle ihres Hasses und ihres Unglücks.

Begonnen hat alles damit, dass Edmund, dem Sexbesessenen („Rudelbumser“, „Sextrapper“, so Susi, so Walser), der einfache Beischlaf nicht genügt. Bizarre Inszenierungen und wilde Perversionen bis hin zum Gruppensex sind sein Revier. Susi macht mit, so lange sie kann. Dann der Bruch. Sie zieht sich vor ihm zurück, „weil sie einen Mann allein haben wollte oder gar nicht.“ Edmund hingegen: „Soll ich mir deshalb meinen Schwanz abschneiden. Vielleicht kann ich das übernehmen, sagte Susi, das Oschatz-Stilett ist ganz scharf drauf, dir zu helfen.“ Also keine körperliche Beziehung mehr, aber immer noch Liebe oder so ähnlich: „Als sie wieder einmal über Scheidung geredet hatten, hatte Edmund gesagt: Mord ja, Scheidung nie. Und sie hätte ihn gern gestreichelt für diesen Satz. Hatte sie aber nicht.“

So sieht es innen aus. Und außen? In aller Kürze, so schwer es auch fällt: Teil 1. Die Gerns sind reich, neureich. Er Bentley, sie Porsche. Er Bordelle, Geliebte mit Appartments (eigene Immobilien), sie Jil Sander, Prada etc. in vielfacher Variation. Konsumismus als Religion. Problemkinder: Andreas ein Tunichtgut, später Zuhälter; Conny behindert, das fette, nette Monstrum. Susi ist das emotionale Oberhaupt der Familie, säuft und frisst und kotzt (Bulimie).
Teil 2, der Niedergang. Edmund überhebt sich, das Finanzimperium bricht zusammen. Schließlich Parkinson sowie Prostata. Inkontinenz, Windeln, Scheiße auf dem Sofakissen. Aber immer noch Bordelle, Pornos an Weihnachten. Gerichtsvollzieher, Edmunds Tod. Teil 3: Susi lebt von der Sozialhilfe, verhökert die beiseite geschafften Reste ihres früheren Reichtums auf Trödelmärkten und an halbseidene Galeristen. Susi kann nicht brauchen, was sie nicht gelernt hat, aber sie lernt, was sie gebrauchen kann, und ihre Lebens- und Liebeslust ist unerschöpflich.

Auf einmal das späte Glück mit Khalil: „Dann lag er schließlich auf Susi, der so genannte Geschlechtsverkehr fand statt, aber Susi spürte weniger Khalil als diese aufständische Sprungfeder der Bett-Couch. Alles, was von oben auf sie herunterkam, presste sie auf diese durch den Stoff so gut wie nicht mehr gedämpfte, offenbar messerscharfe Stahlfeder. Zum Glück war Khalil kein Hammer. Aber weh genug tat‘s auch so. Innen genau so wie außen. Dass er sich überhaupt in sie hineinbrachte! Dagegen war ihre Entjungferung damals eine tolle Rutschpartie gewesen.“ Am Ende, wir schreiben nun Silvester 1999 und Seite 525, wird alles gut.

Genug. Es ist nicht schwer zu begreifen, was Walser will. Und es ist nicht zu bestreiten, dass Walser, dem alten Überredungsmeister und Verzauberungskünstler, bezwingende Szenen gelingen. Als Beispiel nur die eine, völlig nebensächliche: Susi in ihrer kleinen Dreizimmer-Wohnung, der hintere Balkon geht auf einen Schulhof, wo die Kinder in den Pausen rennen, lachen, schreien. Wie Walser diese anonyme Choreografie der Bewegungen und Begegnungen auf kaum anderthalb Seiten schildert, ist wunderbar, kein anderer könnte das so. Und zugleich vermittelt es ebenso indirekt wie wirkungsvoll den Gemütszustand der Heldin. Zum ersten Mal seit langer Zeit hat sie die Muße, alltäglichen Dingen ihre Aufmerksamkeit zu schenken.

Von diesen schönen Ausblicken aber geht die Achterbahnfahrt immer wieder wieder hinab ins geradezu Unterirdische. Und eher früher als später fragt man sich: warum? Denn Walser liebt seine Heldin mit all seiner Inbrunst (und Walsers Inbrunst kann gewaltig sein), was insofern nicht verwunderlich ist, als sie total seine eigene Erfindung, seine eigene Kreatur ist. Dergestalt, dass er sie mit allem begabt, was er selber kann, weiß, denkt, und der Einwand, die arme, eher unbedarfte Susi könne, ihrem Herkommen und ihrer Intelligenz gemäß, nicht derart elaboriert und reich und rabulistisch daherreden, das erinnere doch zu sehr an Walser, verfängt nicht. Denn jede starke Hauptfigur eines starken Romans kann mehr als sie eigentlich können darf, denken wir nur an Franz Biberkopf (Döblins Alexanderplatz) oder Hans Castorp (Manns Zauberberg).

Walser nämlich, und das ist eine seine grandiosen Techniken, kriecht so ins Innere seiner Heldin, dass er als ihr Bauchredner und zugleich als ihr ideales Über-Ich fungiert. Und dies allein ist der Grund, weshalb man, wider besseres Wissen, zähneknirschend bis ans Ende durchhält (es sei denn, man wäre, siehe Achterbahn, gewisser Ekelgefühle nicht mehr Herr geworden).

Warum aber (nochmals) das Zähneknirschen des Lesers, das Scheitern des Walsers? Warum gibt es eine starke Hauptfigur, aber einen schwachen Roman? Nennen wir zwei Gründe.

Der erste liegt, bizarr genug, in Walsers Können. Während unsereins immerzu damit ringt, das kaum Gedachte und schwach Gefühlte in Worte zu fassen, also ständig den Mangel der Formbeherrschung erfährt, mithin die Schmach, dass das Herz voller ist als der Kopf, es auszudrücken, ist Walsers Formulierungsmaschine dem möglicherweise Denk- und Erkennbaren immer einen Schritt voraus, was heißt, dass er immer mehr sagen kann (und leider auch sagt), als literarisch der Fall ist. Das führt zur sprachlichen Überdeterminiertheit und erinnert an gewisse Erscheinungen des architektonischen Rokoko, die Funktion derart total in Form auflösen, dass Ziel und Zweck des Ganzen hinter dem schieren Ornament verschwinden. Man findet den Eingang nicht mehr. In diesem Fall: Die Vorstellungskraft des Lesers erstirbt im Überangebot der Bilder.

Der zweite Grund liegt in Walsers Risikofreude. Er macht hier nämlich etwas, was einem Mann nur selten gelingt: Er verwandelt sich in eine Frau, und zwar mit Haut und Haar. Der Vorgang erinnert in der Tat an gewisse Transvestiten-Shows, die dem Zuschauer einerseits durch ihre Hochartistik Eindruck machen, ihm andererseits durch ihren ständigen Exzess ins Grelle, Schrille rasch auf die Nerven gehen.

So auch hier. Durchaus goutiert man die satirische Überzeichnung eines neureichen Konsumwahns, man versteht auch den Zusammenhang von Geld und Kot, von materiellem Besitz und sexueller Gier, man begreift auch das „Unglücksglück“ und den „Verzweiflungsjubel“ dieser grenzenlos liebenden und liebesbedürftigen Frau. Aber dann marschiert Walser derart gnadenlos ins Peinliche, dass es fast schon wieder umkippt ins Grandiose. Susi, die Unbefriedigte und ewig die falschen Männer Erwischende, legt, und dagegen ist ja wirklich nichts zu sagen, dann und wann Hand an sich; was Walser naturgemäß beschreibt, und zwar in einer seltenen Mischung aus unerschrockener Direktheit und verschwiemelter Metaphorik: „Sie zog ihren Schlüpfer aus, setzt sich aufs Bett, ließ sich umfallen, drehte sich zur Seite, sah, wie sie Hand anlegte. Sie kam sich wie ein Gitarre vor. Sie griff den ersten Ton und gleich den zweiten, den dritten. Rasche Steigerung. Tempo, Susi, Tempo.“ Na, da wollen wir nicht weiter stören.

Nein, dieses Buch ist unerträglich, mithin ein echter Walser. So war er immer, vom Konzentrierten (Ein fliehendes Pferd, Ein springender Brunnen) hinabstürzend ins Haltlose. So ist er eben – noch lange nicht fertig mit sich. Und wir nicht fertig mit ihm.

Martin Walser: Der Lebenslauf der Liebe. Roman. Suhrkamp Verlag 2000

Erschienen in der ZEIT


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