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Ulrich Greiner

Keine Liebe war es nicht

Martin Walsers Roman Ein liebender Mann

Martin Walser hat das Peinliche nie gescheut. Es bildet die Antriebskraft seines Schreibens von Anbeginn. Aber was heißt peinlich? Das Gefühl der Peinlichkeit kann nur jemand haben, der einen Sinn für das Schickliche, Richtige, Angemessene hat und sich der Übertretung bewusst ist, seiner eigenen oder der eines anderen. Das Gefühl hat mit Scham zu tun, mit Kultur. Dem barbarischen Rohling ist alles gleich. Für die denkende, empfindsame Seele aber öffnet sich im Peinlichen die Kluft zwischen der Welt und dem eigenen Ich. In diesem Konflikt tendiert Walser immer zur Wahrheit seines Gefühls. Er will einem moralischen Konsens nicht folgen, den er sich nicht aneignen kann. Andererseits weiß er natürlich, dass die Gesetze der Moral nicht von seiner Zustimmung abhängen. Daraus entsteht die Spannung, die selbst seine fragwürdigsten Romane erfüllt.

Als peinlich gilt zum Beispiel, wenn ein alter Mann sich in ein Mädchen verliebt und seine Verliebtheit öffentlich zeigt. Das ist Goethe passiert, als er sich an der 19 Jahre jungen Ulrike von Levetzow entzündete und rasch in Flammen stand. Da war er 73. Über diese Affäre hat Walser jetzt einen seiner schönsten Romane geschrieben: Ein liebender Mann.

Auch Walser ist schon passiert, was Goethe passierte, jedenfalls hat er ein paarmal darüber geschrieben. In der Brandung (1985) verliebt sich der Gastprofessor Halm in die 30 Jahre jüngere kalifornische Studentin Fran. Beim Versuch, im Pazifik zu baden, schmettert ihn eine Welle an Land. Geschlagen kehrt er ins Ehelager zurück. Er hat gelernt: »Man muss sich hindern an dem, was man will. Man muss betreiben, was man nicht will. Hohe, herbe Friktion.« In seinem Roman Der Augenblick der Liebe (2004) entbrennt der Privatgelehrte Zürn für die 40 Jahre jüngere Wissenschaftlerin Beate, verbringt mit ihr heiße Stunden, fühlt sich aber dem Ansturm der Jüngeren nicht gewachsen und wirft sich am Ende in die Arme der nachsichtigen Gattin. Er weiß, er hat sich lächerlich gemacht. Aber: »Was spricht dagegen, lächerlich zu sein?«

Wir wissen nicht sicher, ob Goethe sich damals lächerlich gemacht hat. Man hat sich offenbar amüsiert. Es war aber eine Zeit, die noch nicht von einer Kultur des Verdachts bestimmt war. Sie war auch noch nicht total sexualisiert. Man betrachtete solche Dinge mit einer gewissen Unschuld. Dass der Freiherr von Hardenberg, bekannt unter dem Namen Novalis, sich mit der 13-jährigen Sophie von Kühn verlobte, störte niemanden. Allerdings war Novalis kein Greis, sondern erst 22. Der Freund Herzog Karl August jedenfalls soll, als Goethe darum bat, für ihn um Ulrikes Hand anzuhalten, gesagt haben: »Alter, immer noch Mädchen!«

Aber er tut’s. Ulrikes Mutter (der Vater lebt nicht mehr) reagiert, wie es sich gehört: Man zeigt sich geschmeichelt darüber, dass der berühmte Dichter die Familie solchermaßen ehrt. Das geschieht im Sommer 1823 in Marienbad. Nun aber wechseln die Levetzows das Quartier und ziehen nach Karlsbad. Was macht Goethe? Er reist hinterher und nimmt ein Zimmer im selben Haus. Die Sache beginnt, »unmöglich« zu werden. Man übersteht die nächsten zwölf Tage mit Anstand, dann packen die Levetzows ihre Koffer, der Sommer ist vorüber, auch Goethe macht sich auf die Heimreise. Was Ulrike empfunden hat, weiß man nicht. In der Goethe-Biografie von Richard Friedenthal steht, die inzwischen alt gewordene Stiftsdame habe einmal, als sie immer wieder danach gefragt wurde, gesagt: »Keine Liebe war es nicht.«

Bei Friedenthal steht auch, dass Goethe, als er die Kutsche nach Weimar besteigt, im Grunde weiß, dass die Sache zu Ende ist (er hat danach Ulrike nie wiedergesehen). Und Friedenthal schreibt: »Es schüttelt ihn gewaltig.«

Dieses Geschütteltwerden ist Walsers Thema. Und es ist sonnenklar, dass Walser, indem er über Goethe schreibt, über sich selber schreibt. Mit allen Mitteln, die ihm zu Gebote stehen (und die sind wahrlich nicht gering), versucht er, uns heutige Leser mit der Unmöglichkeit, der Peinlichkeit eines solchen Begehrens zu versöhnen, es uns verständlich, verzeihbar zu machen. Und wir können ihm, was Goethe betrifft, durchaus folgen, denn wir haben – als Liebesverwirklichungsersatz – die Marienbader Elegie, ein Kunstwerk, in dem der Alte wieder einmal zeigt, was er kann. Man hat derlei nach Freud Sublimation genannt, aber das ist nur ein neues Wort für eine alte Sache: Dichtung entsteht aus der Erfahrung des Mangels.

Das gilt natürlich auch für Walser. Aber bei ihm neigen wir weniger zur Nachsicht. Erstens, weil er unser Zeitgenosse ist, und zweitens, weil sich die Zeiten geändert haben. Mit korrekten Augen betrachtet, wäre Goethes Fall ein Skandal, wobei allerdings Ulrike 1823 gerade eben kein Kind mehr war. Dass sie ihm nun aber als Frau erschien, muss Goethe hingerissen haben, denn er kannte sie ein paar Jahre schon. Walser wiederum gilt als jemand, der sich leicht hinreißen lässt, was er in seinen Büchern immer wieder gewissermaßen abgearbeitet hat. In seinem Roman Der Lebenslauf der Liebe (2000) übrigens dreht er das Verhältnis um und führt seine alte Heldin am Ende in die Arme eines 38 Jahre jüngeren Mannes.

Ist derlei peinlich? Durchaus. Eben das zieht Walser an. Nur daraus entsteht eine neue Wahrnehmung. Das versöhnende Mittel, das er ins Feld führt, ist die Liebe, und Walser besteht darauf, dass das liebende Begehren unschuldig sei. Aber wann wird die Unschuld verwirkt? Das Peinliche ist der Punkt, wo der Zweifel einsetzt. Goethe muss es gespürt haben, sonst hätte er die Marienbader Elegie nicht geschrieben. Auch Walser spürt es, sonst hätte er diesen Roman nicht geschrieben, der ja auch Ersatz für etwas anderes ist. Er ist ein Rechtfertigungsversuch. Weil Walser weiß, dass unsere Ohren dem nicht sonderlich geneigt sind, strengt er sich aufs Äußerste an, dass wir ihm zuhören.

Und was hören wir? Sofort wird klar, dass Walser in die bereitstehende Falle nicht hineintappt, nämlich Goethes Ton zu imitieren. Es ist der vertraute Walser-Sound, hier aber subtil orchestriert, als wäre die nur spärlich überlieferte Goethe-Geschichte ein Klavierstück, sagen wir Mussorgskijs Bilder einer Ausstellung, die Walser wie einst Ravel zu großer Pracht entfaltet, wobei der Originalton immer wieder anklingt und mitklingt, bis wir geneigt sind, die vollständig abgedruckte Marienbader Elegie als natürlichen Teil dieser Walser-Geschichte zu lesen. Was eine Täuschung ist, eine leicht durchschaubare und verführerische. Denn Walsers Ulrike, anders als die wirkliche, von der wir wenig wissen, scheint durchaus geneigt, sich dem Werben des berühmten Alten entgegenzuschmiegen.

Es darf aber, damit die Täuschung gelingt, nicht allzu viel passieren, und außer einem zarten Kuss, außer einem temporären Du passiert auch nichts. Dafür aber angeregte Gespräche, Spaziergänge, bedeutende Blicke und jede Menge Süßholz. »Bis er sie sah, hatte sie ihn schon gesehen. Als sein Blick sie erreichte, war ihr Blick schon auf ihn gerichtet.« So beginnt es, und später heißt es: »Jetzt sah man ihn nie mehr ohne sie. Und sie nie mehr ohne ihn. Und Goethe sah, dass ihn alle sahen. Mit Ulrike am Arm. Er genoss die Blicke, die zum Getuschel geneigten Köpfe, und er sorgte immer dafür, dass Ulrike und er miteinander sprachen. Er führte sich und Ulrike als ein diskutierendes Paar vor, als ein Paar, das sich mehr zu sagen hatte als alle anderen Paare der Welt.«

Und doch, trotz aller Empfänglichkeit Ulrikes und trotz des schönen Einklangs der Herzen, bleibt eine schmerzliche Differenz: auf der einen Seite die bewegliche Empfindungskraft der jungen Frau, auf der andern das existenzielle Schwergefühl des alten Mannes. Das betrifft nicht allein die Seele. »Er stand vor ihr, wäre gern auf die Knie gesunken, wusste aber, dass das Aufstehen misslingen konnte.« Und später, nach einem triumphalen Auftritt im Ballsaal, während eines berauschten Spaziergangs im Park, passiert es: Goethe stürzt und fällt aufs Gesicht. Ein paar blutige Schrammen, mehr nicht, aber doch eine bedeutsame Niederlage.

Die Signale häufen sich. Bei einem anderen Tanzabend taucht ein Konkurrent auf, ein schmissiger, jüngerer Herzensbrecher, und Goethe zieht sich schmollend zurück in seinen Gasthof. »Er hatte es doch in jeder Sekunde gewusst, aber in keiner Sekunde sich eingestanden, dass nichts sein konnte. Nichts. Nichts. Nichts.« So hadert er mit sich selber. Und kann es doch nicht lassen, aus dem Fenster zu gucken, hinüber ins Palais, wo in Blickweite Ulrike wohnt und jetzt mit diesem Widerling vielleicht immer noch plaudert oder gar mehr. »Er musste mit seiner ganzen Gedanken- und Willenskraft den Entschluss durchsetzen, nicht mehr hinüberzuschauen. Aber plötzlich stand er wieder am Fenster, öffnete es und lehnte sich fast hinaus, um noch genauer zu sehen, dass er nicht sah, was drüben vorging. Zurück, weg vom Fenster, sag dir, dass du dir diese auf dich wartende Enttäuschung nicht noch einmal zuziehen darfst. Und fand sich wieder am Fenster hinüberschauend. Er sah ein, dass es töricht sei, von sich etwas Unmögliches zu verlangen.«

Schon am Anfang wird sichtbar, was Walsers Goethe im dritten und letzten Teil Asymmetrie nennen wird, in einem jener jetzt wirklich walserisch exzessiven Briefe an Ulrike, die der wirkliche Goethe nie geschrieben hat. Er hat ja überhaupt nur zwei Briefe an Ulrike geschrieben, eigentlich anderthalb, denn der zweite, verfasst im September 1823, also nach Ausbruch der Liebeskrankheit, ging nominell an die Mutter, und der erste wurde vorher, im Januar geschrieben. Man kann daran sehen, wie Walser den Fall in seinem Sinne zuspitzt. Der Sturz im Park zum Beispiel ist wirklich geschehen, und es war in der Tat in jenem Sommer, aber Goethe wandelte da mit der Madame Szymanowska, einer gefeierten Pianistin, die sehr schön gewesen sein soll. Der Meister hat auch in diesen Dingen auf Qualität geachtet.

In einem dieser Walser-Goethe-Briefe also heißt es: »Du bist einzigartig. Mit Deiner Einzigartigkeit beherrschst Du mich. Tag und Nacht. Bin ich einzigartig für Dich? Ich bin’s nicht. Sonst wärst Du längst hier. Diese Asymmetrie ist die Schere, die das Unglück misst.« Und später schreibt er: »Ich hoffe noch. Aber ich weiß, es ist aussichtslos. Aber ich glaube nicht, dass es aussichtslos sei.« Das ist schon fast das Selbstgespräch, zu dem seine Briefe mehr und mehr sich entwickeln, denn Ulrike ist nicht da, sie schreibt nicht, es ist vorbei, und gegen Ende vermerkt der Erzähler: »Er hatte sich geübt, ihre Abwesenheit als ihre Form der Anwesenheit zu denken.« Resignation ist das nicht, sondern der Übergang in jene produktive Spätphase, der wir den zweiten Faust verdanken.

Damit die Geschichte nicht allzu harmlos ende, lässt Walser die Levetzows durch Weimar kommen und dort anhalten, aber nicht, um Goethe zu besuchen. Der Kurzsichtige ahnt sie von Weitem, schickt seinen Diener, der bestätigt, es seien die Levetzows, und Goethe geht nach Hause (»er schämte sich vor sich selbst«, heißt es), trinkt zwei Flaschen Portwein, geht zu Bett. Dort liegt er, »voller Leichtigkeitsschwere«, wie Walser in schönem Mitgefühl schreibt. Der letzte Satz: »Als er aufwachte, hat er sein Teil in der Hand, und das war steif. Da wusste er, von wem er geträumt hatte.«

Hier sind wir nun erneut an der Peinlichkeitsschwelle und wissen endlich wieder, nachdem wir es eine Weile vergessen hatten, wer da spricht. Es ist Walser höchstselbst, er hat das Verwirrspiel an sein Ende geführt. Indem er sich Goethe nahe gebracht hat, hat er uns Goethe nahegebracht – seinen Goethe, der aber vom wirklichen so weit nicht entfernt ist. »Einige Naturen erleben eine wiederholte Pubertät«, lässt er Goethe einmal an Ulrike schreiben, »während andere nur einmal jung sind. Das ist kein Künstlerprivileg. Es ist kein Geschenk der Natur. Es will erworben sein durch Arbeit.« Wer eine solche Pubertät nie erworben hat, der wird mit diesem Roman wenig anfangen können. Zudem liegt auf der Hand, dass der Geist des Protestantismus, der, wo immer er kann, das schlechte Gewissen promoviert, derlei als frivol empfinden muss. Dabei ist es nur lebensfroh. Muss man eine Kultur nicht seltsam nennen, in der Lebensfreude und Peinlichkeit so dicht beieinanderliegen?

Martin Walser: Ein liebender Mann
Roman. Rowohlt Verlag, 2008; 284 S., 19,90 €



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