Die folgende Begegnung mit Joan Didion fand im November 1995 in New York statt. Die Passage ist ein Ausschnitt aus dem inzwischen
vergriffenen Buch "Gelobtes Land - Amerikanische Schriftsteller
über Amerika" (Rowohlt 1997).- Im Gespräch taucht gelegentlich der Begriff "affirmative action" auf. Siehe dazu diese Erläuterung.
Mit Joan Didion wollte ich unbedingt sprechen. Ich kannte ihre Essays über die Macht der Filmindustrie, über Geschichte und Bedeutung der Los Angeles Times, über eine Vergewaltigung im Central Park, über die Verquickung von Großgrundbesitz, Wasserwirtschaft und Politik in Kalifornien, und ich bewunderte diese Essays, weil sie Politik und Kultur, Ökonomie und Mentalitätsgeschichte miteinander verschränken, aus der Nahaufnahme folgerichtig in die historische Perspektive schwenken, aus dem individuellen Porträt und dem persönlichen Gespräch die politische Analyse ableiten, und weil sie von einer Person geschrieben sind, die ebenso unerschrocken-scharfzüngig wie unsentimental-lakonisch erscheint. Joan Didion, 1934 in Sacramento geboren, studierte in Berkely, ging nach New York zur Zeitschrift Vogue, heiratete den Schriftsteller John Gregory Dunne, mit dem zusammen sie einige Drehbücher verfaßte, und zog nach Los Angeles. Sie lebt heute halb dort, halb in New York.
Mit Joan Didion zu sprechen war nicht so einfach. Immerhin hatte ich, was bei amerikanischen Autoren dieser Bekanntheit ungewöhnlich ist, ihre Telefon- und Fax-Nummer in Erfahrung bringen können. Also faxte ich ihr einen Brief, in dem ich mich vorstellte, um ein Gespräch bat und die Thematik erläuterte. Daß keine Antwort kam, beunruhigte mich nicht. Als ich einige Zeit später im Begriff war, nach New York aufzubrechen, rief ich sie an. Sie war gleich am Apparat, ich verwies auf mein Fax. Sie entgegnete, und ihre Stimme klang müde und leise, sie erhalte derart viele Faxe, daß sie sich nicht erinnern könne. Ich wiederholte, was im Brief gestanden hatte. Sie antwortete, sie habe keine Zeit, sei überarbeitet, sitze mitten an einem neuen Roman. Ich solle sie anrufen, wenn ich in New York sei, vielleicht ergebe sich eine Chance. Das tat ich dann. Ich hatte wenig Zeit, da ich für den übernächsten Tag den Rückflug gebucht hatte, und sagte ihr, es müsse morgen sein, andernfalls gehe es nicht. Wieder wirkte sie müde, erschöpft. Sie werde mich im Hotel zurückrufen, zwischen zehn und elf. Ich bedankte mich, rechnete keineswegs mit einem Rückruf, da solche Rede eine probate Form der Absage ist, richtete es aber so ein, zur gegebenen Zeit auf meinem Zimmer zu sein. Sie rief an, bestellte mich auf drei Uhr nachmittags. Zeit: eine Stunde. Adresse: West 71st Street.
Der vermutlich aus den dreißiger Jahren stammende, etwa zwölfgeschossige Wohnblock an der Ecke Madison Avenue hatte am Eingang einen Baldachin und einen schwarzen Türwächter, der mich telefonisch anmeldete. Ein Liftboy, ebenfalls schwarz, brachte mich nach oben. Die Tür öffnete sich auf einen kleinen, mit Teppich, Spiegel und Blumen geschmückten Flur, an dessen rechter und linker Seite sich Wohnungseingänge befanden. Der rechte öffnete sich, Joan Didion gab mir stumm die Hand, der Liftboy verschwand, sie geleitete mich in die Küche, wo sie mich am großen runden Tisch Platz zu nehmen bat, während sie sich eine Weile mit der Vorbereitung des Thanksgiving Dinners zu schaffen machte, das erst morgen, wie sie erläuterte, stattfinden würde, also zwei Tage nach dem Feiertag, da die Familienmitglieder vorher keine Zeit gehabt hätten. Die Küche war überaus geräumig, hatte zwei Spülbecken, einen Herd mit sechs Kochstellen, einen gewaltigen zweiflügeligen Kühlschrank, die hellen Fenster gingen offenbar auf die einundsiebzigste Straße hinaus.
Joan Didion, eine zarte, blasse, spitznasige Erscheinung mit aschblondem Bubikopf, trug einen langen, weiten Rock, darüber einen langen, weiten Pullover. Sie trocknete sich die Hände ab, nahm mir gegenüber Platz, räumte verschiedene Zeitungen und Zeitschriften beiseite (darunter die New York Times und die New York Review of Books) und blickt mich mit leicht zusammengekniffenen Augen stumm an. Das Interview konnte beginnen. Es war, mit einem Wort, fürchterlich. Jedenfalls empfand ich es so. Nichts liebt ein Journalist mehr als Gesprächspartner, die auf wohlformulierte Fragen mit einer längeren Pause reagieren und dann mit „Ja“ oder „Nein“ antworten. Joan Didion flüsterte, murmelte, stockte, und immer mehr beschlich mich das unbehagliche Gefühl, unsere mühsame Unterhaltung könnte in jedem Augenblick verstummen. Zugleich war ich nahezu sicher, daß keine ihre kaum verständlichen Antworten vom Tonband korrekt aufgezeichnet würde.
Auf meine Frage nach dem Verhältnis amerikanischer Schriftsteller zur Politik antwortete Joan Didion:
„Ich glaube nicht, daß die Schriftsteller in Amerika jemals eine nähere Beziehung zum öffentlichen Leben gehabt haben. Vielleicht gab es das im 19. Jahrhundert, sicherlich ist Henry Adams ein Beispiel. In unserem Jahrhundert ist Gore Vidal eine solche Ausnahme, er hat ja sogar in Kalifornien für den Senat kandidiert, hat sich auch um einen Sitz im Kongreß bemüht, ohne Erfolg allerdings. Aber ansonsten sehe ich da nichts.“
Die berühmten New Yorker Intellektuellen in den Dreißigern - waren sie nicht eine Ausnahme?
„Gut, im intellektuellen Leben des Landes haben sie eine gewisse Rolle gespielt, aber ich glaube nicht, daß sie irgend etwas in der politischen Öffentlichkeit bewirkt haben. Vor allem scheint mir, daß sie mit dem wirklichen politischen Leben überhaupt keine Verbindung hatten. Es gab endlose persönliche Dramen und wilde Debatten, ob jemand trotzkistisch, stalinistisch oder sonstwas sei, aber es hatte mit der Wirklichkeit des Landes nichts zu tun. Das war ja auch nur eine kleine Gruppe, das war urbanes Leben, das war New York.“
Gab es nicht in den Sechzigern eine Koalition zwischen den politischen Liberalen, den Linken und den Intellektuellen ?
„Das glaube ich nicht. Es gab im Weißen Haus eine gewisse Wahrnehmung der kulturellen Szene, aber mehr auch nicht.“
Aber hat sich nicht das Land danach geändert?
„Wieso?“
Ich denke an an die Tatsache, daß es nun eine multikulturelle Gesellschaft gibt.
„Der Multikulturalismus verdankt sich dem Erfolg - oder dem Mißerfolg - unserer Einwanderungspolitik. Die Tatsache, daß Amerika ein multikulturelles Land ist, hat überhaupt nichts mit den Intellektuellen oder mit dem intellektuellen Leben zu tun, sondern lediglich mit simplen materiellen Tatsachen.“
Sie glaubt also nicht, daß sich das Land geändert hat?
„Ich glaube, daß gerade jetzt jedermann in den Vereinigten Staaten ein tiefes Unbehagen verspürt, wenn er darüber nachdenkt, welche Mission das Land zu erfüllen hat. Die meisten von uns sind mit dem nicht weiter hinterfragten Gefühl aufgewachsen, daß die Vereinigten Staaten ein führende Rolle bei allem, was passieren würde, zu spielen hätten. Das Gefühl ist zweifelhaft geworden. Noch in den Fünfzigern und den Sechzigern gab es die Vorstellung, wir hätten eine manifeste, ein gottgegebene Bestimmung, dann gab es einen Kater, und jetzt sind wir alle völlig ratlos, was als nächstes zu geschehen hat. Die einfachsten Dinge sind unklar. Wo ist die Geschichte? Niemand weiß, wo sie ist.“
Was bedeutet das für sie als Schriftstellerin?
„Ich versuche, es überhaupt nichts bedeuten zu lassen. Ich muß nämlich meinen Roman fertigkriegen. Ich will darüber nicht nachdenken. Als ich meinen ersten Roman schrieb, traf ich einen Bekannten und sagte ‚Ich schreibe gerade einen Roman‘, und der Bekannte sagte ‚Das ist genau das, was die Welt braucht: Noch einen Roman.‘ Das stimmt, wissen Sie. Die Welt braucht nicht noch einen Roman. Wenn man einen schreiben muß, kommt man über dieses Gefühl hinweg. Sobald man zu fragen anfängt, ob die Welt noch einen Roman braucht, kommt man zu der Antwort, daß sie keinen braucht. Also unterlasse ich die Frage. Ich glaube, daß sich jeder Schriftsteller in sein Werk vergraben muß, um die Zweifel, ob es überhaupt nötig ist, nicht an sich herankommen zu lassen.“
Abgesehen davon, daß sie einen Roman schreibt: Sie ist auch eine intellektuelle Person, die an der politischen und intellektuellen Debatte teilnimmt.
„In meinem Privatleben tue ich das in geringerem Ausmaß, als wenn ich schreibe. Wenn ich mich dazu entschließe, über ein bestimmtes Thema zu schreiben, dann erst fange ich an, darüber nachzudenken, es zu erkunden, zu recherchieren und zu einem Urteil zu kommen. Wenn ich aber an nichts Besonderem arbeite, versuche ich eigentlich, keine Urteile abzugeben. Die stellen sich nämlich oft als falsch heraus, weil ich nicht genügend nachgedacht und nicht genau genug hingeguckt habe. Ich gehe zum Beispiel häufiger als viele andere zu Vorträgen über politische Dinge, ein paarmal in der Woche. Aber wenn das Thema nicht Gegenstand meines Schreibens ist, habe ich keine Meinung dazu. Das ist nicht meine Art.“
Aber ihre Essays sind sehr politisch.
„Das stimmt, aber ich gelange dahin, indem ich mich hinsetze, die Sache durchdenke und ausarbeite. Sie sind so, weil ich so denke, aber ich denke nicht so, wenn ich nicht schreibe. Ich kann nur beim Schreiben denken.“
Das ist mehr, als die meisten tun.
Bis dahin war unser Gespräch eher zäh gewesen. Joan Didion wirkte zerquält und schien mit ihren Gedanken einerseits beim bevorstehenden Thanksgiving Dinner, andererseits bei ihrem Roman. Sie sprach in sich hinein, leise, stockend, so daß ich sie kaum verstand. Als ich aber diesen durchaus bescheidenen Witz machte (beim Schreiben zu denken sei nicht jedermanns Sache), da brach sie plötzlich in ein kurzes, lautes, männlich tiefes, gewissermaßen kneipenhaftes Lachen aus, das von einer ganz anderen Person zu kommen schien. Daß diese flüchtige, zerfurchte Gestalt jene Joan Didion sein sollte, die in ihren mit kaltem Verstand geschriebenen Essays so scharfe, herrische Urteile abgab, hatte mich irritiert, und nun sah, genauer: hörte ich ihre andere, ihre sarkastische und vitale Seite. Der Ausbruch aber endete so abrupt, wie er begonnen hatte, und unsere nicht eben feurige Unterhaltung nahm ihren Fortgang.
Gibt es eine intellektuelle Gemeinschaft in diesem Land?
„Nein. Es gibt ein paar Leute, mit denen man redet. Um die New York Review of Books herum gibt es Art von intellektueller Szene. Aber davon abgesehen, ist nicht viel los.“
Europäische Intellektuelle nehmen häufig teil an der öffentlichen Debatte, sie werden von Fernsehsendern und Zeitungen um ihre Meinung zu politischen Dingen gefragt. Ist das hier der Fall?
„Man kriegt Anfragen von Sendern oder Zeitungen, ja, aber gewöhnlich antworte ich nicht darauf. Man weiß ja nie, was am Ende dabei herauskommt. Ich habe immer den Eindruck, daß sie nur auf Zitate aus sind, die sie mit mir in Verbindung bringen können. Das ist nichts, was einen nützlichen Dialog ergeben könnte. Sonntags morgens gibt es einen ganzen Reigen politischer Talk Shows aus Washington, an die sechs, die sich zum Teil überschneiden. Leute von der Regierung sind dabei, und man lauert auf das Wort der Woche. Wenn man da zuguckt, kriegt man einen phantastischen Eindruck davon, worüber die Leute in Washington reden, man ist unmittelbar mitten drin. Aber es gibt keine wirklich intellektuelle Öffentlichkeit, die sich von der politischen unterschiede.“
Was hält sie von der „konservativen Revolution“ Newt Gingrichs? Ist es eine Revolution oder ein Mißverständnis?
„Ich finde diese Fundamentalisten ziemlich ärgerlich. Sie haben derzeit die Politik fest im Griff des gut organisierten Partialinteresses. Ich glaube nicht, daß sie eine sehr verbreitete Stimmung repräsentieren. So radikal, wie Gingrich sich jetzt gibt, wird er das keine drei Monate mehr durchhalten, er wird durchknallen. Aber er scheint immer drauf und dran durchzuknallen - also, ich weiß es nicht. Generell hat es in diesem Land eine Wendung zum Autoritären gegeben, und das keineswegs nur bei den Republikanern. Es ist eine zyklische Bewegung. Es gibt ein allgemeines Bedürfnis nach sozialer Kontrolle. Man konnte das schon in den Sechzigern beobachten, und jetzt ist es Konsens. Es äußert sich etwa in der Frage. Was ist los mit unseren Strafverfolgungsbehörden? Als Reagan Präsident war, sagte der frühere Staatsanwalt eines kalifornischen Regierungsbezirks sinngemäß, Leute, die verhaftet würden, seien in der Regel schuldig, denn sonst hätte man sie nicht verhaftet. Das klang damals verrückt, aber ich glaube, daß heute die meisten Menschen so denken.“
Ist dieses Denken nicht auch eine Reaktion auf die Linke?
„Mir scheint, daß die Linke nie so weit gediehen ist, politische Wirkung zu erzielen, über die manchmal mißgeleitete Verteidigung persönlicher Freiheitsrechte hinaus. Die Liberalen haben nie das Feld beherrscht. Es gab ein paar Sozialprogramme, die in der Tradition liberalen Denkens standen und eine gute Idee gewesen sein mögen oder auch nicht. In der Hauptsache ging es nur um individuelle Freiheitsrechte.“
Der Streit über political correctness zeigt aber doch, daß bestimmte Siege der Linken in Frage gestellt werden.
„Welche Siege?“
Etwa der Multikulturalismus, die Anerkennung ethnischer oder geschlechtlicher Identität.
„Political correctness ist verrückt und hat mit links nichts zu tun. Diese Leute benutzen die Sprache der Linken, das ist alles. Solche Linien zu ziehen und solche Unterscheidungen zu treffen, ist schlimmstes autoritäres Denken. Ich kenne das aus meiner Schulzeit in den fünfziger Jahren, da wurde einem beigebracht, was man sagen durfte und was nicht, was korrekt war und was nicht.“
Michael Lind sagt, die Grenzziehungen nach Rasse und Geschlecht dienen nur dazu, die Klassengegensätze zu verschleiern.
„Ich kenne sein Buch nicht, aber das ist völlig richtig. Eine Menge von dem, was in diesem Land vor sich geht, ist nichts als eine Verkleidung von Klassendifferenzen, über die zu diskutieren wir nicht imstande sind.“
Manche befürchten eine Balkanisierung des Landes.
„Ich befürchte die nicht im physischen Sinn, daß das Land auseinanderfiele, aber im übertragenen Sinn, insofern, als es entlang der sozialen Gegensätze längst balkanisiert ist. Die ethnischen Grenzen spielen auch eine Rolle, aber einer geringere. Wenn es hart auf hart kommt, findet man die schwarze Mittelklasse an der Seite der weißen.“
Sollte man die Immigration stoppen?
„Nein.“
Warum nicht?
„Es wäre nicht möglich.“
Angenommen, es wäre doch möglich und es wäre Unternehmern verboten, illegale Immigranten zu beschäftigen?
„Das ist jetzt schon verboten, und größere Unternehmen überprüfen, ob man legal ist. Die Filmproduktionsgesellschaft, für die ich manchmal arbeite, tut das. Aber zur Frage, ob man die Immigration überhaupt stoppen sollte: Ich weiß es nicht, es verstieße gegen die Idee, der dieses Land immer verbunden war. Es würde bedeuten, das Land neu zu definieren. Es war gedacht als der Ort, wohin jeder kommen konnte und wo er unendliche Möglichkeiten finden sollte, die eigenen Fähigkeiten zu verwirklichen. Wollten wir die Tür schließen, müßten wir uns neu definieren. Vielleicht ist der Zeitpunkt dafür gekommen, ich bin mir nicht sicher.“
Hat sie nicht unangenehme Gefühle bei dem Gedanken, daß die Weißen der europäisch-amerikanischen Tradition eine Minderheit werden könnten?
„Überhaupt nicht. Ich bin in Kalifornien aufgewachsen. Meine Vorfahren sind seit dem 17. Jahrhundert immerzu nach Westen gewandert, von New York aus nach Virginia, Arkansas, Missouri, bis schließlich nach Kalifornien. Das war der letzte Stop. Als ich ein kleines Kind war, da war Kalifornien unterbevölkert. Die meisten Leute, die da lebten, waren wie wir, hatten hier immer gelebt, seit 1850. Und die anderen, die auf den Gütern arbeiteten, das waren die Mexikaner, und damit hatte es sich. Dann kam der Zweite Weltkrieg und veränderte alles. Massen von Menschen strömten in das Land und arbeiteten auf den Werften, darunter viele Schwarze aus dem Süden. Und nach dem Krieg gab es den Wirtschaftsboom, der ebenfalls viele Menschen ins Land zog. Ich habe es all meine Tage erlebt, daß irgendjemand zuzog, ich bin das gewöhnt.“
Was heißt es, eine amerikanische Schriftstellerin zu sein?
„Man schreibt aus einer Art Isolation heraus. Ich glaube, die amerikanische Literatur spiegelt diese Isolation wider.“
Isolation des Landes oder der Autoren?
„Des Landes und der Autoren in diesem Land, vor allem aber des Landes. Wenn Sie sich die amerikanische Literatur vor Augen halten, Moby-Dick oder The Scarlet Letter, dann waren solche Romane Romanzen. Die ganze Form entstand aus der Isolierung und nicht aus dem sozialen Kontakt.“
Gibt es die amerikanische Idee?
„Die amerikanische Idee lautet, daß alle Menschen gleich sind.“
Funktioniert sie noch?
„Das ist es ja, die Idee bestand darin, daß dies ein freies Land ist, wo ein jeder, da alle Menschen gleich sind, aus sich das machen kann, wozu er imstande ist. Ob das eine Romanze ist oder nicht, müssen wir noch herausfinden. Amerika ist das einzige Land in der Welt, das aus einer Idee entstand. Sie kannte keine Grenzen, oder? Sie ging so weit, wie sie irgend gehen konnte.“
Aber der Raum ist natürlich begrenzt.
„Ja, das erfahren wir jetzt, und der frontier-Mythos ist zu Ende. Das ist der Grund, weshalb viele ins Landesinnere, in den Norden ziehen: da ist noch Raum. Eine Menge Leute aus Kalifornien ziehen nach Utah oder Montana.“
Was hält sie von der affirmative-action-Debatte?
„Ich bin nicht sicher, ob man die affirmative action so hätte kodifizieren sollen, wie man es getan hat. Die Kodifizierung enthielt schon den Keim der Niederlage. Ad hoc und im Einzelfall angewendet ist sie nützlich, aber sobald ein starres Regelsystem daraus wird, entsteht neue Ungerechtigkeit.“
Mag sie etwas über ihren neuen Roman sagen?
„Nein, das ist zu früh, ich muß ihn nur fertig kriegen, ich hoffe, bis Weihnachten, obwohl noch das letzte schwierige Drittel vor mir liegt. Aber ich hoffe darauf, daß ich eines Tages aufwache und daß es dann ganz schnell geht.“
Ich sagte, ich wolle sie nicht länger aufhalten.
„Möchten Sie eine Tasse Tee?“
Nein danke.
Damit war unser Gespräch beendet, und Joan Didion brachte mich zum Ausgang, öffnete die Tür und streckte die Hand zum Abschied aus. Ich bat sie, mir meinen Mantel zu geben, den sie zu Beginn in den Flurschrank gehängt hatte. Sie stutzte einen Moment und reichte mir dann wortlos den Mantel. Draußen war ein feuchter Novembertag, und ich spürte, wie mir die Kälte unangenehm auf die Schultern kroch.
Als ich später die Abschrift des Didion-Interviews las, sah ich zu meiner Freude, daß es nicht vollständig mißlungen war, fast im Gegenteil. Was ich zeitweise als Gesprächsverweigerung empfunden hatte, war nichts anderes als Joan Didions illusionslose und äußerst lapidare Art, zu denken und zu sprechen. Sie erschien mir auf einmal viel moderner und jünger als beispielsweise Doctorow. In der Tat gehört sie derselben Generation an wie Doctorow (er ist 64 Jahre alt, sie 61), aber ihre literarische und intellektuelle Position ist sehr verschieden. Das Motiv, das alle Essays und Romane Didions beherrscht, ist die Desillusionierung, ist der Wunsch, den Dingen auf den Grund ihrer Tatsächlichkeit zu gehen und sich nicht durch den Anschein und die naheliegenden Deutungen abspeisen zu lassen. Ihre Methode ist der scheinbar kalte analytische Blick, auf dessen Kehrseite manchmal eine stille, entsagungsvolle Trauer sichtbar wird. So etwa in der Erzählung Spiel dein Spiel (Play It As It Lays, 1970), wo Maria, Ehefrau eines minderen Hollywood-Produzenten und Schauspielerin in ebenfalls nicht gerade glanzvollen Filmen, die Scheinwelt der grenzenlosen Freiheit und des schnellen Geldes, der Drinks am Pool und der nachtkurzen Affären in dem Augenblick zu bezweifeln und zu erleiden beginnt, als eine unerwünschte Schwangerschaft sie vor die Wahl stellt, ihr eigenes Leben zu leben (aber was wäre das?) oder die Dinge zu nehmen, wie sie kommen - to play as it lays. Didion erzählt die Geschichte nicht geradeaus und vom Hügel des allwissenden Erzählers herab, sondern sie dokumentiert gewissermaßen die Positionen und Konstellationen der beteiligten Personen, sie stellt ein Puzzle her, aber nicht, um einem Spieltrieb zu genügen, sondern weil die meisten Tatsachen interpretierbar sind und also abhängig von der Sicht der Betroffenen. Joan Didions Position ist nämlich nie (ganz anders als die Doctorows, der als der Gott seines Stoffs erscheint und daher nicht sichtbar anwesend ist) autonom und souverän, sondern immer die des Journalisten im besten Sinn, also desjenigen (oder derjenigen), der (die) weiß, daß Wahrheit ein fernes, eher unerreichbares Ziel ist - und so etwas wie Wahrscheinlichkeit schon das Optimum.
In ihrem Roman Demokratie (1984) scheint sie sich dieser Problematik noch bewußter geworden zu sein. Die Erzählerin sagt dort: „Mir wurde beigebracht, den Versionen anderer Leute zu mißtrauen, aber wir müssen mit dem, was wir haben, auskommen. Wir gehen die Berichterstattung von allen Seiten an. Stellen Tendenzen in Rechnung. Kalkulieren Vorlieben, Voreingenommenheiten ein, die besonderen Umstände, die das Spektrum verändern, in dem jeder Beobachter eine Situation sieht.“ In dieser Bemerkung steckt schon die zum Sarkasmus geronnene Antwort auf die Pilatus-Frage, zeigt sich schon die desillusionierte Position dessen, der auf die Strategie der Desillusionierung setzt. An einer anderen Stelle des Romans heißt es: „Jeder, der Mitte und Ende der Sechziger und Anfang der Siebziger als Journalist arbeitete, konnte davon ausgehen, auf Jack Lovett zu stoßen. Er war ein guter Kontakt. Er wußte vieles. Nachdem ich meinen ersten Roman beendet hatte und von Vogue fortging und als Reporterin anfing, traf ich ihn tatsächlich recht häufig, meistens in Honolulu, aber manchmal auch in der einen oder anderen Transithalle oder amerikanischen Botschaft, und vielleicht, weil er mich als Freundin von Inez Victor wiedererkannte, schien er mich von seinem instinktiven Mißtrauen gegenüber Reportern auszunehmen.“
Das Seltsame an dieser Passage ist die Mischung aus Fiktion und Fakten. In der Tat ging Joan Didion, nachdem sie ihren ersten Roman Menschen am Fluß, die autobiographisch getönte Familiensaga zweier Landbesitzer-Dynastien am Sacramento River, veröffentlicht hatte (1963), zur Zeitschrift Vogue nach New York, in der Tat wurde sie die berühmte Reporterin politischer Hintergrundberichte für Esquire oder die New York Review of Books. Aber Jack ist ebenso eine Romanfigur wie Inez, die Geschichte ist eben Literatur, ist Fiktion. Aber eine, die dem politischen Geschehen dicht auf der Ferse folgt. Es geht ja nicht nur um Ehebruch (den Inez, die Gattin des potentiellen Präsidentschaftskandidaten Harry Victor, mit Jack begeht), es geht auch um die amerikanische Niederlage in Vietnam, auch um die Verfalls- und Krisenerscheinungen der amerikanischen Gesellschaft dieser Jahre, insbesondere um ein politisches System, das die veröffentlichte Intimität und die intimisierte Öffentlichkeit ununterscheidbar mischt.
Indem Joan Didion die Wahrheitsfrage schon auf der handwerklichen Ebene stellt, erlegt sie sich selber ein Handikap auf, das einer wie Doctorow mit dem großen Orchester der klassischen Romankunst glanzvoll überspielt. Noch im jüngsten Roman Joan Didions (The Last Thing He Wanted, 1996) wird einmal gesagt, ein Leben zu erzählen, bedeute, es zu verfälschen. Der Gedanke käme Doctorow vermutlich fremd vor. Da seine Geschichten allesamt erfundene, imaginierte Geschichte sind, empfangen die Helden ihr Leben aus Doctorows Hand. Wahrscheinlich fiele für Joan Didion diese Art von Literatur unter das, was sie im Gespräch „Romanze“ genannt hat (engl. romance). Das Wort ist schwer zu übersetzen, gemeint sind damit jene Romane, die wir in einem vorwissenschaftlichen Verständnis „romantisch“ nennen, insofern sie auf die Einbildungskraft und die Emotion des Lesers zielen und ihn verführen wollen. Das ist Didions Sache nicht. Ihr dezidierter Anti-Illusionismus erfaßt das Literarische wie das Politische - so etwa, wenn sie mutmaßt, die amerikanische Idee könnte eine „Romanze“ sein. Weil sie wahrhaft politisch denkt, empfindet sie, daß die krisenhaften Symptome der modernen, der postindustriellen Gesellschaft ins Innere des Denkens und Schreibens eingedrungen sind und einfache Antworten unmöglich machen.