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Ulrich Greiner

Das Wesen der Literatur ist Vieldeutigkeit

Die folgende Begegnung mit E.L.Doctorow fand im September 1995 in Sag Harbor statt. Die Passage ist ein Ausschnitt aus dem inzwischen vergriffenen Buch "Gelobtes Land - Amerikanische Schriftsteller über Amerika" (Rowohlt 1997).- Im Gespräch taucht gelegentlich der Begriff "affirmative action" auf. Siehe dazu diese Erläuterung.

Die Long Island Rail Road verläßt die neu hergerichtete und sauber gekehrte Penn Station, taucht im Tunnel unter dem East River hindurch und kommt nach einer langen Weile irgendwo in Queens ans Tageslicht. Der Zug durchquert holpernd und schlingernd die verbrannte Erde der Zivilisation: leere Fabriken mit eingefallenen Dächern, verrostete Gleisanlagen, endlose Gebiete mit ärmlichen Häusern und schmutzigen Straßen, an deren Ecken altersgraue Holzmasten stehen, gebeugt vom Kabelgewirr.

In Huntington wechselt man den Zug, denn ab hier ist die Strecke noch nicht elektrifiziert. Eine altertümliche Diesellok ächzt mit Waggons herbei, die aus einer anderen Zeit zu stammen scheinen. Jeder hat seinen Schaffner. Er steht auf dem Perron, und wenn die nächste Station naht, steckt er seinen Kopf durch die Tür und schmettert mit sichtbarem Genuß ihren Namen.

Sag Harbor, an der Nordküste von Long Island gelegen, ist ein ehemaliges Walfängerdorf. In einem der alten Kapitänshäuser, direkt am freundlichen Wasser der Bucht, wohnt der Schriftsteller E.L.Doctorow. „Als die Walfangindustrie zusammenbrach, wurde aus Sag Harbor ein Arbeiterviertel. Die Immobilienmakler waren nicht daran interessiert, und so sieht es hier immer noch fast so aus wie im 19.Jahrhundert. Vor ein paar Jahren allerdings kamen Leute mit Geld und Geduld und investierten einiges in die Promenade. Jetzt haben wir da ein paar Restaurants und Boutiquen - so was ist wohl unvermeidlich.“

Doctorow, geboren 1931 in der Bronx, Autor von Romanen wie Das Buch Daniel, Sterntaucher, Ragtime und Billy Bathgate, hat 1989 in einer Rede vor Studenten gesagt, als Konservative könne man diejenigen Leute definieren, die bereit seien, für die Erhaltung von Prinzipien das Leid anderer Menschen in Kauf zu nehmen. Im Gespräch bekräftigt er diese Ansicht. Die Konservativen hätten es verstanden, ihr eigenes Interesse, das Interesse einer kleinen Gruppe von Reichen, als das Gesamtinteresse auszugeben und den berechtigten Wunsch der Minderheiten, ihre eigene Identität zu finden, als political correctness zu brandmarken:

„Die Bereitschaft der Konservativen, ins Abstrakte zu flüchten, nur noch an die fiskalische Verantwortlichkeit zu denken und dabei das Leid der Menschen zu vergessen, erstaunt mich immer wieder. Die Attacke gegen den Liberalismus währt nun schon geraume Zeit, sicherlich die letzten fünfzehn Jahre, und sie ist noch nicht hinreichend analysiert worden. Sie betrifft nicht nur die Sprache in der Politik und die politische Theorie, sie enthält auch eine rassistische Botschaft. All diese Diskussionen über die Sozialfürsorge zum Beispiel sind ständig mit der Behauptung verknüpft, daß die meisten Fürsorgeempfänger Schwarze seien. Was nicht stimmt. So taugt die Debatte vor allem dazu, einen rassistischen Antagonismus zu begründen, und dazu gehört die Attacke gegen die Immigration, dazu gehört, den Immigranten das normale bürgerliche Recht auf Ausbildung und Arbeitslosenversicherung zu verweigern, wie es jetzt in Kalifornien geschehen ist, dazu gehört die höhnische Verachtung dessen, was political correctness genannt wird, die aber doch nichts anderes ist, als der berechtigte Wunsch der Menschen, selber ihre Identität bestimmen zu können und sie nicht durch andere bestimmt zu sehen. Der zivile Umgang miteinander, der darauf verzichtet, jemandes Rasse oder Sprache zu diskreditieren, wird als politisch korrekt attackiert. In Wahrheit handelt es sich um den Angriff der Rechten gegen die kulturelle Identität, die Minderheiten für sich beanspruchen dürfen, und dieses Recht wird als Partialinteresse bezeichnet. Das ist absurd. Denn unter Partialinteresse versteht man das Interesse einer kleinen Zahl ungeheuer reicher Leute, die ihre spezielle politische Agenda auf Kosten des Landes verfolgen, wie es etwa zu Beginn des Jahrhunderts Standard Oil getrieben hat. Jetzt drehen die Konservativen den Spieß einfach um und erklären Gewerkschaften, die Hunderttausende von Mitgliedern haben, oder Jesse Jacksons Rainbow Coalition einfach zum Interesse von Minderheiten, zum Partialinteresse. Diese Umkehrung liberalen Sprachgebrauchs ist meisterhaft, und sie ist pervers. Das wirklich Außerordentliche an der jetzigen Lage aber ist der absolute und allgemeine Verdacht gegen Staat und Regierung, der seit den ersten Tagen der Reagan-Zeit gehegt worden ist.“

Hat dieser Verdacht nicht eine lange Tradition?

„Ja, aber in den dreißiger Jahren, als die Dinge im Land schlecht standen, wurden bestimmte Gesetze verabschiedet, um den Menschen zu helfen, zum Beispiel die Sozialversicherung, die Arbeitslosenversicherung, das Streikrecht, verschiedene Polster, um Leute, die ins Unglück gefallen waren, aufzufangen. All dies basierte auf den Prinzipien des liberalen Föderalismus. Das Ausmaß des ökonomischen Elends heute, nach den Maßnahmen der Roosevelt-Regierung und nach Johnsons Great Society in den Sechzigern, ist nicht so groß wie in der Depression der Dreißiger, die durch das Prinzip des Laissez faire entstanden war, das nun von den Republikanern wieder angewendet wird. Aber die Regierung wird kritisiert, wenn sie etwas für die Armen tut. Das ist pervers, selbstdestruktiv. Und diese soziale Mißwahrnehmung wurde durch die Advokaten konservativer Politik und Wirtschaft in den letzten fünfzehn Jahren verursacht. So haben wir die verrückte Situation, daß eine enorme Anzahl von Wählern aus der Mittelschicht und der unteren Mittelschicht dazu gebracht wurde, gegen ihr eigenes Interesse zu stimmen.“

Manche sagen, gegenwärtig seien die durch die Einwanderung verursachten Probleme größer als je zuvor in der Geschichte des Landes. Die New York Sunday Times spricht von der Gefahr, daß das Land in zwei Nationen geteilt werde: in die Mittelschicht, die das Landesinnere aufsucht, und in die Immigrationszentren wie New York oder Los Angeles, wo die Weißen in der Minderheit sind und die sozialen Probleme anwachsen.

„Ja, das ist die Schreckensvorstellung, die hinter den konservativen Attacken auf die legalen wie die illegalen Immigranten steht. In Wahrheit aber ist das wirkliche Problem das Interesse der Agrarindustrie an billiger Arbeitskraft, und die findet sie in den illegalen Zuwanderern, die zu schwach sind und zu verängstigt, um gegen die Arbeitsbedingungen und gegen die niedrigen Löhne zu protestieren. Das wirkliche Problem der illegalen Immigration sind die sweat shops, die Agrarindustrie und alle jene Unternehmen, die auf unerlaubte Weise versuchen, die Kosten zu senken. Wenn man das Problem korrekt benennt, dann geht es darum, diese Leute daran zu hindern, Illegale zu beschäftigen, und wenn es keine Jobs mehr für die Illegalen gibt, dann hört auch die illegale Immigration auf. Aber das ist nur ein Nebenaspekt. Das eigentliche Thema ist, daß, historisch betrachtet, die ungeheuren Immigrantenströme in der Vergangenheit immer von der Gastkultur integriert worden sind, und das geschah erstens und vor allem dank der amerikanischen, der unitarischen Ideale, die immer noch Gültigkeit haben. Zweitens durch ein System öffentlicher Bildung und Erziehung, das noch bis vor kurzem ziemlich effektiv war, derart, daß die Einwanderer innerhalb einer Generation assimiliert waren, die ethischen Prinzipien und Überzeugungen der Gastkultur angenommen hatten und nichts anderes wollten, als deren Teil zu sein. Es gibt keinen Beweis dafür, daß dieser Impuls nicht mehr existiert. Es hat in diesem Land immer starke nativistische und rassistische Kräfte gegeben, die sich vor den Fremden gefürchtet haben, aber über die Generationen und Jahrzehnte hinweg haben sich solche Befürchtungen immer als gegenstandslos erwiesen. Das Problem jedoch, warum viele die Innenstädte verlassen und in andere Staaten umziehen - eine unleugbare Tatsache -, berührt eine andere Frage: Was passiert in den Städten? Ist es bloß das fremde Gesicht oder die fremde Sprache, die Unwohlsein erzeugen? Nein, das wird in Verbindung gebracht mit Kriminalität und Aggression gegen die traditionellen amerikanischen Werte. Unzweifelhaft gibt es Verbrechen in den Innenstädten, aber ebenso unzweifelhaft wäre es besser, nicht noch mehr Gefängnisse zu bauen und noch mehr Polizisten einzustellen, wie die übliche Antwort lautet, sondern etwas gegen die Ursachen der Kriminalität zu tun. Ich gebe Ihnen hier die klassische liberale Antwort: Verbrechensbekämpfung muß bei den Wurzeln beginnen. Für einen Teenager, der den amerikanischen Traum träumt, isoliert lebt und keine Chancen hat, der von der Polizei oftmals brutal behandelt wird, gibt es keinen anderen Weg zum Erfolg, als Drogen zu verkaufen. Also muß man diesen Menschen den traditionellen Zugang zum Erfolg offenhalten, und das ist Ausbildung, ist ein Job. Wir hatten die Flucht von den Innenstädten in die Vororte, und nun haben wir sie von den Vororten in andere Staaten, nichts daran ist neu. Unglücklicherweise haben wir Politiker, die die schlimmsten Ängste der Menschen mästen, um Macht zu gewinnen.“

Was hat sich geändert: die Lage oder die Politiker?

„Das politische Geschäft, die politische Persönlichkeit hat sich geändert. Wir hatten die Tradition des Amateur-Politikers, der, wenn ihm etwas nicht paßte, wenn er gegen etwas Protest erheben wollte, zurücktrat. In anderen Demokratien gibt es das noch ab und zu, hier nicht. Denn Politik ist ein Beruf, ein sehr korrupter, und die Politiker müssen herumlaufen und um Geld betteln, und wer das meiste Geld hat, hat den meisten Einfluß auf Politiker. Sobald ein Politiker im Amt ist, muß er den Reichen dienen, wenn er dort bleiben will, und das muß er, weil er nichts anderes gelernt hat und eine andere Karriere ihm nicht offensteht.“

Aber war das nicht immer so?

„Es hat sich geändert, weil sich Professionalismus und Spezialistentum auf allen Gebieten breitmachen, also auch in der Politik. Obwohl man für die Politik nicht allzu große Kenntnisse braucht. Ein Politiker lernt schnell, daß es viel leichter ist, an die Ängste, Animositäten und Haßgefühle, die wir alle haben, zu appellieren als an unsere besseren Eigenschaften und an unsere Fähigkeit zur Vernunft, daß es für ihn besser ist, wenn er auf unsere unmittelbaren Bedürfnisse setzt als auf unsere Geduld. Deshalb ist die Rechte bei den Wahlen immer im Vorteil, sie muß nicht viel tun, um uns zu gewinnen, während immer ein paar gedankliche Schritte nötig sind, um die liberalen Schlußfolgerungen nachvollziehen zu können. Wenn es wirtschaftlich bergab geht, beginnt jeder jeden zu hassen und findet die Wurzel der Probleme in seinem Nachbarn. Und dieser Mechanismus wird von den politischen Profis bedient, die an der Macht bleiben wollen. Newt Gingrich spricht jetzt von der republikanischen Revolution. Man kann das nur eine Revolution nennen, wenn man nie etwas von Herbert Hoover oder Calvin Coolidge gehört hat und wenn man vergißt, wie Roosevelt die politischen und wirtschaftlichen Dinge organisiert hat. Diese Leute wollen zurück zu eben den Prinzipien, die uns die größten Schwierigkeiten bereitet haben. Kein Roosevelt und kein New Deal wäre nötig gewesen, hätte der Laissez-faire-Kapitalismus funktioniert. Er hat aber nicht, er war ein Disaster. Manchmal glaube ich, daß es über diese einzelnen Aspekte hinaus eine nationale, vielleicht sogar internationale Strömung des Denkens und Empfindens gibt. Es ist so ähnlich, als würde man einen Schwarm von Fischen sehen, der in eine Richtung schwimmt, und ganz plötzlich schwimmt er in eine andere Richtung, ohne daß man den Punkt bemerkt hätte, an dem der Schwarm kehrtgemacht hat. Oder vielleicht ist es so, daß der ganze Planet von einem geistigen Virus heimgesucht wird, wie von einer Grippe, so daß plötzlich jedes Land für die Konservativen stimmt.“

Hängt das nicht auch mit dem Ende des Sozialismus zusammen?

„Natürlich war die Sowjetunion kein sozialistisches Land, sie war eine totalitäre Diktatur, die den Sozialismus als Tarnung mißbraucht hat. Das ist alles. Die Schlüsselfrage lautet: Kann der Staat so organisiert sein, daß er das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl garantiert, ohne daß er zugleich despotisch wird? Kann es also einen demokratischen Sozialismus geben? Tatsache ist, daß es in diesem Land eine große Tradition der politischen Aufklärung gibt und der Partizipation möglichst vieler am gesellschaftlichen Prozeß. Aber die konservative Politik führt zu einer generellen Entmutigung dieses Idealismus.“

Das klingt sehr pessimistisch. Ist er das?

„Nein, bin ich nicht. Sehen Sie, es ist etwas merkwürdig für mich, über solche Dinge zu reden. Jedesmal, wenn ich in eine politische Diskussion gezogen werde, werde ich nervös, denn ich sehe mich plötzlich dieselben Ausdrücke verwenden, die jedermann verwendet. Ich spreche plötzlich in der öffentlichen Diktion, was mir wirklich nicht gefällt. Jüngst hatte ich mit dem Fall des schwarzen Journalisten Abu-Jamal zu tun. Ich habe darüber im Juli in der New York Times ein Stück geschrieben, in dem ich ganz ruhig darauf hingewiesen habe, wie dubios die Beweislage im ersten Verfahren gewesen ist. Er sollte hingerichtet werden, aber jetzt hat der Gouverneur gesagt, er will die Hinrichtung aussetzen, bis der Rechtsweg ausgeschöpft ist. Das ist insofern von Bedeutung, als die Todesstrafe in vielen Staaten wieder praktiziert wird. Das ist ein schrecklicher Fehler. Sich um einen solchen Fall individuellen Unrechts zu kümmern, ist nicht schwer, es ist sogar die einfachste Sache der Welt, aber ich sehe darin nicht in erster Linie meine Lebensaufgabe. Wenn Sie mich fragen: Was soll der Künstler tun?, so weiß ich keine Antwort. Ich reagiere auf die Dinge sehr subjektiv und persönlich. Ich habe keine Prinzipien, die mich veranlassen könnten, andere Autoren zu belehren, das wäre unsinnig.“

Doctorow beschäftigt sich in seinen Büchern, mehr als andere, mit politischen und historischen Dingen. Fühlt er sich isoliert, gibt es eine Gemeinschaft der Intellektuellen?

„Es gibt eine Gemeinschaft, die sich um den amerikanischen PEN schart. Die meisten der in diesem Land bekannten Schriftsteller haben zum Beispiel gegen das Todesurteil gegen Salman Rushdie protestiert. Aber wenn es um nationale Dinge geht, sind die Schriftsteller gespalten. Es gibt Liberale, es gibt Konservative, und auch solche, die sich um Politisches kaum kümmern. Während des Vietnamkriegs hat der überwiegende Teil der literarischen Öffentlichkeit ausdrücklich dagegen opponiert. Ich nehme an, das Ausmaß des politischen Engagements wächst und schwindet mit der Wahrnehmung der Krise.“

Haben die Schriftsteller ein Krisengefühl?

„Wahrscheinlich noch nicht, weil die Maßnahmen der Republikaner noch keine Wirkung gezeitigt haben. Ich glaube, wenn dieser Augenblick kommt, wenn die Gesellschaft die Folgen spürt, die katastrophal sein werden, katastrophal für die Umwelt, die Wirtschaft und eine wachsende Zahl armer Menschen, dann wird es ein größeres Engagement geben.“

Doctorow gilt als linker Schriftsteller. Ist er das?

„Ich weiß nicht, was das bedeutet. Das sind nutzlose Begriffe. Manche Leute mögen es, anderen solche Etiketten anzuheften. Seitdem es Literatur gibt, gibt es den Versuch, sie auf etwas Leichtes zu reduzieren. Aber das Wesen der Literatur ist die Vieldeutigkeit, und das verstört viele, und daher diese Verkleinerungs- und Erleichterungsversuche. Ich lehne jeden Versuch ab, vor das Wort Schriftsteller ein Adjektiv zu setzen, also ‚historisch‘ oder ‚links‘ oder was immer.“

Und was wäre mit „amerikanischer Schriftsteller“?

„Ich bin Amerikaner, in diesem Sinne ja.“

Betrifft das nur die Sprache oder mehr?

„Sprache ist Kultur, die Kultur ist durch die Sprache verkörpert, und der Schriftsteller lebt in der Sprache. Wenn man ein Buch schreibt, lebt man in den Sätzen, man unternimmt Reisen durch die Sprache, die Sprache ist die Umwelt. Also kann man nicht fragen: Ist es nur die Sprache? Das kann nicht sein, weil die Sprache alles ist. Es gibt Schriftsteller, die als wesentlich amerikanisch gelten, etwa Mark Twain, Melville, Poe oder Emerson, aber das ist der Blick von heute. Erst viel später hat man gesehen, daß sie etwas Exemplarisches verkörpern, von dem wir glauben, es gehöre zur nationalen Identität. Aber wenn man ihr Werk betrachtet, so ist es sehr, sehr dunkel. Daran ist nichts Liebenswürdig-Optimistisches. Hemingway hat gesagt, die amerikanische Literatur beginne mit Huckleberry Finn, aber das stimmt nicht, es sei denn, man guckt auf die Beziehung zwischen Huckleberry Finn und den finsteren Kurzgeschichten von Poe, auf diese Verzweiflung bei Poe, die man auch bei Twain findet, unserem lustigsten und komischsten Schriftsteller. Das, was man an einem Schriftsteller amerikanisch findet, stellt sich oft erst in späteren Generationen heraus, sobald dieser Schriftsteller jene Identität erst eigentlich geschaffen hat, von der wir geglaubt hatten, er sei nur ein Beispiel dafür. Und sehr oft schließt unsere Wahrnehmung davon zugleich eine Reduktion dessen ein, was das Werk eigentlich bedeutet. Ist Henry James ein amerikanischer Schriftsteller? Er hatte nie ein größeres nationales Echo. Wie amerikanisch ist er? Ich weiß es nicht.“

Emerson sagte: Amerika ist das Land der Zukunft. Ist das die amerikanische Utopie?

„Aber er hat auch pantheistische Ideale vertreten, und als Unitarier hat er sich von der herrschendenen religiösen Praxis abgesetzt. In diesem Sinn ist er unamerikanisch. Überhaupt, das ist es: Die größten amerikanischen Schriftsteller waren unamerikanisch. Sie sind keine Optimisten, keine religiösen Traditionalisten, keine großen Demokraten. James war kein Demokrat, Poe haßte die Demokratie, er traute ihr nicht. Die Expansion in den Westen ging los, das Land boomte, und das einzige, dem er trauen konnte, war er selber. Was einen Schriftsteller wahrscheinlich groß macht, ist die Ausnahme, die er vom Durchschnitt darstellt. Wir hatten diesen wunderbaren Maler Norman Rockwell, der all diese süßen Bilder des amerikanischen Alltags gemalt hat, er gab uns das, was wir uns wünschten. In Wahrheit aber tun die großen Künstler etwas anderes, sie geben uns nicht das, was wir uns wünschen. Zu der Zeit, als er malte, geschahen außerordentliche Dinge in der Welt der Kunst, an denen er keinen Anteil hatte. So glaube ich also, daß die Frage nach der amerikanischen Literatur sehr komplex ist. Dieses Land existiert noch nicht sehr lange. Es liegt immer wieder im Streit mit sich selber, was es eigentlich sein soll. Der erste große amerikanische Schriftsteller, der nicht aus der angelsächsischen Tradition stammte, war Theodore Dreiser, der aus einer armen Familie deutscher Immigranten kam. Sein Vater war Eisenbahnarbeiter und Nachtwächter, und im Winter sammelten die Kinder an den Bahndämmen Kohlenstücke auf, damit sie etwas zum Heizen hätten. Dreiser stand nicht in der Tradition der großen aufgeklärten Neu-England-Literatur wie Emerson oder Beecher-Stowe. Er veröffentlichte zuerst 1899, das war, literaturgeschichtlich gesehen, gestern.“

Wenn er an den Unterschied zwischen Arm und Reich denkt oder der politischen Rechten überdrüssig ist - was könnte der Beitrag der Literatur in dieser Situation sein?

„Ich weiß das nicht.“

Er versucht, seine Bücher auch für einfache Leute lesbar zu machen.

„Ja, das ist wahr. Aber ich habe kein ästhetisches Manifest. Das einzige, was für mich von Bedeutung ist, ist die Frage: Funktioniert das Buch? Und wenn es dadurch funktioniert, daß es einfach und zugänglich ist wie vielleicht Ragtime, dann bin ich zufrieden. Aber schon den nächsten Roman Sterntaucher konnte ich nicht anders hinkriegen als so, wie er ist: ziemlich schwierig zu lesen. Natürlich möchte man, daß möglichst viele Menschen das Buch lesen, aber ich kann deswegen keine Konzessionen machen, keine Kompromisse eingehen. Ein Buch beginnt für mich immer mit den kleinsten Dingen, mit einem Bild, einem Musikstück, mit etwas, was ich auf der Straße sehe, mit dem Klang von Worten, einem Satz, und ich gehe der Frage nach: Warum berührt mich das? Was bedeutet es? Manchmal wird ein Buch daraus, viel öfter nicht. Der Anlaß für Sterntaucher (im Original Loon Lake) war ein Straßenschild, und die beiden Wörter kamen mir sehr musikalisch vor. Es gibt viele Loon Lakes, ungefähr sechzehn. Ich sah die beiden Wörter, und ein Buch beginnt immer mit einem sehr privaten Entzücken. Man trifft keine förmliche Entscheidung, ein Buch zu schreiben, man hat keine größeren Absichten, jedenfalls ich nicht. Ich habe keinen Plan, keine Gliederung, ich beabsichtige nicht, etwas auszuführen, was ich im voraus weiß, ich höre nur eine Musik. Das Buch hat seine eigene Stimme und seine eigene Art des Seins, und wenn man das nicht respektiert, die Integrität dieses Prozesses mißachtet, dann hat das Werk überhaupt keinen Wert. Wenn jemand sagt, du bist eine politischer oder ein linker Schriftsteller, dann ist das weitab von der Wahrheit und von der Realität meines Schreibens. Marcel Duchamps hat einmal für eine Weile aufgehört zu malen, und als er gefragt wurde, weshalb, sagte er: Ich fand, zuviel davon hat gepaßt. Das Malen paßte zu sehr in das, was er schon wußte, und in diese Lage, Bekanntes nur auszufüllen, möchte kein Künstler geraten, weil dann sein Werk tot wäre, flach. Man vertraut dem Buch alles an, was man im Kopf und im Herzen hat.“

Offenbar hat Doctorow auch ein politisches Herz.

„Diese Dinge kommen organisch durch die Arbeit, ich füge sie nicht hinzu. In der Hauptsache handelt es sich um die Idee der Gerechtigkeit, und das ist nicht politisch, sondern biblisch. Du sollst nicht stehlen, du sollst nicht töten - das sind essentielle ethische Prinzipien.“

Religiöse Prinzipien?

„Vielleicht gibt es eine christliche Grundlage, aber schließlich haben alle großen Religionen dieselben ethischen Prinzipien, und das ist ermutigend. Das Wertvollste an Religion ist für mich nicht, daß sie Visionen vom Jenseits hat, sondern daß sie sich mit unserem Leben hier auf der Erde befaßt. Leben nach dem Tod ist eine soziale Phantasie. Der Wert von Religion besteht darin, daß sie uns sagt, wie wir hier leben sollen. Wer Freiheit für sich selber will, muß sie auch anderen gewähren. Freiheit ist nicht teilbar, und eine Gesellschaft ist unfrei, wenn nur diejenigen, die Zeitungen lesen, sich ausdrücken können. Das ist alles sehr einfach, und vielleicht ist auch der Wunsch nach Gerechtigkeit einfältig, und der Optimismus, daß sie in immer höherem Maß für immer mehr Menschen erreicht werden könnte, ist verrückt. Aber was wäre die Alternative? Die wäre so kümmerlich und traurig, daß sie nicht einmal den Anspruch erheben könnte, moralische Qualität zu haben. Dann kehren wir zurück zu den Gewehren und den Muskeln.“

Was denkt er über die religiöse Praxis in Amerika?

„Ich achte den religiösen Impuls und das Bedürfnis nach dem Heiligen, nach dem Ritual, ich achte das sehr, aber zugleich spüre ich, daß diese Wünsche am stärksten sind, wenn das Leid am größten ist. Man kann nicht in eine schwarze Kirche dieses Landes gehen, ohne durch die Zeremonien zu Tränen gerührt zu werden, durch die Demut, die Leidenschaft, durch die Art des Betens und Singens. Drinnen vielleicht alle in untergeordneten Jobs und draußen der Ku Klux Klan, der die Schwarzen lynchen möchte. Da versteht man, daß die Intensität des Glaubens in direktem Verhältnis zur Intensität des Elends steht, und man kann derlei nicht verspotten, weil es sehr wichtig für den Zusammenhalt der Gemeinschaft ist. Aber ich weiß auch, daß, wenn ein gewisser Grad an sozialer Gerechtigkeit erreicht ist, die religiöse Intensität sinkt, ruhiger wird, mehr verinnerlicht wird. Wahrscheinlich bin ich ein Deist. Das Übernatürliche hat nichts mit Dogmen, Kirche, Ritual zu tun, sondern mit dem, was den menschlichen Genius ausmacht oder mit dem, was uns die Schönheit eines Berges oder eines Ozeans erkennen läßt. Es ist eine Art pantheistischer Idee. In meinem Roman Wasserwerk fragt jemand den Wissenschaftler Dr. Sartorius: Sie glauben nicht an Gott?, und er sagt: Nicht als einen jetzt zusammengesetzten Gott, und das verneint nicht den Glauben an Gott, wohl aber die Arroganz des förmlichen religiösen Ausdrucks, der ein Wort für Gott hat und weiß, wer Gott ist. Das ist eine Form der Pietätlosigkeit. Diejenigen, die Gott vertreten und die wissen, was er will, sind für mich die gottlosesten von uns allen.“

Dr. Sartorius erinnert an den KZ-Arzt Mengele.

„Natürlich, aber ich wußte das nicht, als ich das Buch schrieb. Wenn man im Buch drin ist, dann denkt man nicht an die Außenperspektive, also nicht: Was bedeutet es? Was für ein Symbol ist es? Auf was spiele ich hier an? An so etwas denkt man nicht, sondern nur: hier ist der Doktor und diese Szene und dieses Wetter, man lebt in dem Buch. Wenn das Buch fertig ist, erst dann wird man zum Leser und merkt die Bezüge. Das gilt auch für Geschichte. Wenn man über die Vergangenheit schreibt, schreibt man über die Gegenwart. Deshalb muß sich jede Generation die eigene Geschichte schreiben, weil sie für die Gegenwart sprechen muß. Es genügt nicht, daß jemand 1910 ein Buch über die amerikanische Revolution geschrieben hat, man muß es heute noch einmal schreiben. Ich habe gerade für die Nation einen Aufsatz geschrieben - kennen Sie die Zeitschrift?“

Ja, ich habe gehört, er zähle zu den Herausgebern.

„Es ist irrtümlich geschrieben worden, ich hätte mich daran finanziell beteiligt, aber das stimmt nicht. Ich habe über lange Jahre dort publiziert, vor allem aus Freundschaft zum Herausgeber. Der Aufsatz geht über die Atombombe und reagiert auf eine ganze Reihe von Büchern über dieses Thema. Ich merke, daß Dr. Sartorius eine Wissenschaft repräsentiert, in der der moralische Imperativ von der wissenschaftlichen Neugier überwältigt wird. Und solche Leute haben die Bombe erfunden, es war aufregend und stimulierend, und als es getan war, sagten sie: O Gott, was haben wir gemacht? Sie merkten, daß sie mit all den Formeln unbewußt eine Tafel beschrieben hatten, ihren Namen unter einen Faustischen Vertrag gesetzt hatten. Generell glaube ich, daß ein gut Teil der wissenschaftlichen Intelligenz durch Regierungsaufträge kompromittiert ist. Vor allem nach dem Krieg hat sich die wissenschaftliche Gemeinschaft auf Regierungsgeld gestürzt. Tatsache ist, daß wir wahrscheinlich die Atombombe nicht gebaut hätten, wenn wir nicht angenommen hätten, Hitler tue dasselbe. Die amerikanische Bombe entstand aus Furcht vor der deutschen. Und die Wasserstoffbombe war unsere Antwort auf Stalin. Dafür haben wir eine größere Verantwortung als für die Atombombe, denn der Kalte Krieg war ebenso unsere Erfindung wie die der Sowjets, vielleicht sogar mehr.“

Er hat einmal gesagt: Die Amerikaner hätten eine Schwäche für die Vorstellung, daß das Individuum sich seine eigenen Regeln schaffe und frei sei von ethischen Fesseln.

„Daher kommt sicherlich auch unsere Bewunderung für Verbrecher - das Thema von Billy Bathgate. Wir sind fasziniert von der Anarchie des Gangstertums, das keinerlei Autorität anerkennt. Daher auch unsere Begeisterung für die Eroberer des Westens. Gerade die Leute, die rechtzeitig ihre Rechnungen und Strafmandate bezahlen und nur bei Grün über die Straße gehen, bewundern die sorglose, schrankenlose Selbstverwirklichung. Das spielte auch im Sterntaucher eine Rolle, Bennett ist so einer, der die völlige persönliche Freiheit dank seines Reichtums und seiner Fähigkeiten auslebt - bis hin zu dem Punkt, daß er die Wildnis als seinen Garten betrachtet.“

Seine Familie lebte immer in Städten.

„Ja, meine Großeltern kamen zwischen 1870 und 1880 aus Rußland nach New York, wo ich aufgewachsen bin.“

New York ist sicherlich die interessanteste Stadt, aber mir wurde gesagt, daß sie eigentlich keine Verbindung zum übrigen Land hat. Man weiß wenig voneinander.

„Das traf sicherlich für die zwanziger Jahre zu. Als damals junge Männer wie Hemingway oder Fitzgerald im Mittelwesten aufwuchsen, gingen sie nach New York. Der Provinzialismus in weiten Teilen des Landes war so groß, daß sie gezwungen waren wegzugehen, nach New York eben oder nach Europa. Aber der Zweite Weltkrieg hatte eine ungeheure Wirkung auf sehr viele Männer, die überallhin ausgeschickt worden waren, um zu kämpfen, und als sie zurückkehrten, waren sie andere. Der Weltkrieg hat eine Menge dazu beigetragen, Amerika zu entprovinzialisieren. Es kamen die großen europäischen Immigranten hierher, die großen Interpreten, Komponisten, Schriftsteller, und sie hatten eine enorme Wirkung auf die amerikanische Kultur. Das geschah nicht nur in New York, auch in Los Angeles, wohin die Schauspieler und die Regisseure gingen. Zum andern hat sich der Regionalismus abgeschwächt, was eigentlich traurig ist, denn das, was oft als Provinzialismus bezeichnet wird, hatte eine sehr spezifische Qualität, war regionale Kultur und daher wertvoll. Das ist durch das Radio, durch das Fernsehen und die Massenmedien zerstört worden. Nur noch wenige Ecken des Landes haben diese kulturelle Integrität bewahrt, sei es durch ihre Isolation wie in den Appalachen, oder durch ihre Religion wie die Amish People. Was auch immer New York sein mag, kosmopolitisch, glanzvoll, modisch - das hat sich über das ganze Land verbreitet. Die Leute hatten Geld und die Möglichkeit, nach New York zu reisen und das Broadway-Theater zu sehen und dann anderswo ähnliche Theater zu errichten. Der kulturelle Graben zwischen New York und dem Rest des Landes existiert nicht mehr. Auch in anderen Städten, ob in Atlanta, Seattle, Portland oder Minneapolis, findet man sehr gute Museen, Theater und Universitäten mit literarischen Lesungen.“

Daniel Bell hat den Essay „The End of American Exceptionalism“ geschrieben. Der Traum von der Stadt auf dem Hügel, sagt er, sei zu Ende, dieses Land sei ein Land wie andere. Hat er recht?

„Es gehört zur Logik der konservativen politischen Philosophie, daß wir dem Wettbewerb standhalten müssen. Wir können es uns nicht leisten, einem Arbeiter 15 Dollar die Stunde zu bezahlen, wenn gleichzeitig in Japan oder Indonesien 60 Cents bezahlt werden. Daran mag etwas Wahres sein. Wir hatten in diesem Land für mehr als hundert Jahre die totale Herrschaft über den eigenen Markt. Das machte uns ökonomisch so stark, daß wir jedem anderen Land überlegen waren. Seit dem Weltkrieg, seit dem Erstarken von Japan und Europa haben wir dieses Monopol nicht mehr, und unser Lebensstandard beginnt zu sinken. Das fing in den siebziger Jahren an, als Daniel Bell seinen Essay schrieb. Diese Art des exceptionalism ist vorbei, und da stimme ich Bell zu. Wir sind in gewisser Weise europäisiert worden. Es kommt hinzu, daß der unerschöpfliche Raum allmählich erschöpft ist, und die Bevölkerung wächst. Und trotzdem gibt es einen Unterschied. Dieses Land ist auf ein Stück Papier gebaut, auf die Verfassung der Vereinigten Staaten. Tausende von Jahren gesellschaftlicher Organisation haben es nicht vermocht, die Demokratie zu etablieren - hier wurde sie mit einem Federstrich geschaffen. Alle unsere politischen Kämpfe geschehen im Rahmen der Verfassung und mit jedermanns Blick darauf, wie sie zu verstehen sei - insofern hat Daniel Bell unrecht. Es ist unsere Natur, immer hinter dem zurückzubleiben, was wir eigentlich zu sein hätten, aber ich glaube, wir wissen das, und das macht uns außergewöhnlich.“

Die Amerikaner gelten als pragmatisch, aber manchmal scheinen sie das überhaupt nicht zu sein.

„Wir lösen unsere Probleme technokratisch. Wenn ein Polizist erschossen wird, lautet die Antwort: kugelsichere Westen. Wenn die Verbrechen zunehmen, baut man mehr Gefängnisse. Wir halten nach praktischen Lösungen Ausschau, aber es sind keine Lösungen. Dennoch glaube ich, daß der amerikanische Traum immer noch lebendig ist.“

Doctorow, der mit seiner tiefen, nasalen Stimme langsam, aber zügig und fast druckreif gesprochen hatte, machte eine Pause. Ihm schien unbehaglich zumute. Jetzt sagte er:

„Sie geben mir Anlaß, geschwollen zu reden. Ich weiß nicht mehr darüber als andere. Ich habe keine besonderen Kenntnisse. Ich bin nicht einmal ein guter Beobachter des Landes. Ich bin nicht der Schriftsteller, der in einen Raum mit mehreren Menschen kommt und sofort aus ihrer Kleidung, ihrem Haarschnitt und ihrem Benehmen zu schließen weiß, welchen gesellschaftlichen Status sie haben und wer mit wem schläft. Ich bin kein Beobachter der sozialen Wirklichkeit, ich lebe zu sehr für mich. Sie fragen mich diese großen Fragen, als ob ich in der Position wäre, darauf mit Autorität zu antworten.“


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