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Ulrich Greiner

In der Sonne sitzen

Martin Walser ist in seinem neuen Aphorismenbuch »Spätdienst« wieder der, den wir kennen: Ein Übertreibungskünstler von bewundernswerter Vitalität


Ein schönes und bewegendes Buch: „Spätdienst“ von Martin Walser. Ein Schriftsteller wie er ist ja immer im Dienst, Nichtschreiben und Nichtdenken sind ihm unmöglich. Doch die jahrzehntelange Praxis fällt ihm schwerer als ehedem. Denn es ist spät geworden. Er ist jetzt 91 Jahre alt.

Man sagt zuweilen, um jemanden zu loben, er sei sprachmächtig, aber das träfe Walsers Kunst nicht. Er hat zur Sprache ein Liebesverhältnis. Es ist kein Machtverhältnis bei ihm. »Die Sätze, die ich schreibe, sagen mir etwas, was ich, bevor ich sie schrieb, nicht wusste«, heißt es einmal, und später: »Genauigkeit, Vorstellbarkeit, das ist noch nicht poetisch. Poetisch ist es, wenn man nicht mehr nachweisen kann, dass es stimmt, aber man weiß, dass es stimmt.« Da ist er wieder, der betörende Walserklang, der einem leicht zu viel werden kann, wenn er in die Breite geht. Hier jedoch handelt es sich um eine Sammlung kürzester Texte, um Gedichte, Aphorismen, Miniaturen, Reflexionen, grafisch schön angeordnet und geschmückt mit den zarten Vignetten seiner Tochter Alissa.

Die ersten Zeilen geben den Ton an: »Ich möchte sein wie ein Wunsch, / auf der Schwelle möchte ich stehen, / ein Tag sein vor seinem Anbruch, / noch nicht gewesen sein möchte ich«, und sie finden ihr Echo in der allerletzten Notiz: »Es tanzen die Blätter im Wind, / wissen nicht, dass sie am Fallen sind.« Er allerdings weiß es, und dass er am Fallen ist, darunter leidet er: »Die Tage vergehen von selbst, / ich mische mich nicht ein, / ich bin ein Fleck, der trocknet, / ich werde gewesen sein.« Auch diese Zeilen spiegeln sich am Ende: »Ich bin ausgelaufen, / dann vertrocknet, / hat mich jemand / aufgewischt, war's Gott.«

Ja, es ist auch ein trauriges und bedrückendes Buch. Walser hadert mit dem Altwerden, dem Wenigerwerden: »Mein Körper verlangt Privilegien. Er droht mit Kündigung. Nimm sie doch an!« Mehr noch hadert er mit sich selbst: »Oft verabrede ich mich mit mir und gehe nicht hin. Ungern begegne ich mir. Hoffentlich sterbe ich weg, bevor ich mir sage, was ich denke von mir.« Das klingt desaströs und zugleich komisch, denn oft ist in solchen Klagerufen auch Humor dabei, vielleicht Galgenhumor. Jedenfalls verfolgt man diese Blinklichter aus dem Herbst eines Lebens mit großer Anteilnahme.

Da nun aber Walser die Tugend des Stoizismus nicht besitzt, da ihm nichts ferner liegt als Gleichgültigkeit gegen wen oder was auch immer, hadert er nicht allein mit dem Alter und mit sich selbst, sondern mit all seinen Feinden, und die sind sonder Zahl. »Du müsstest hoffnungsloser werden mit jeder Niederlage. Aber im Gegenteil, von Niederlage zu Niederlage steigt deine Hoffnung. Vergleichbar den Niederlagen des Spielers, der mit jedem Verlust glaubt, die Wahrscheinlichkeit, dass sein Einsatz jetzt endlich dran sei, nehme zu.« Worin besteht die Niederlage? In der Unfähigkeit offenbar, unverletzbar zu sein. Und es scheint so, als nähme die Verletzbarkeit mit wachsenden Jahren zu. »Ich werde mitgeschleift von einem Schiff, verhöhnt von den Leuten an Bord, ich müsste nur loslassen, versinken, ertrinken, und alles wäre gut.« Wer sind diese Leute an Bord? Unter anderem die Literaturkritiker. Viele kommen namentlich vor und werden mit bösen oder ironischen Sentenzen bedacht.

Ist das nicht seltsam? Der berühmteste lebende deutsche Schriftsteller, Autor von 50 oder 60 Romanen, Träger fast aller bedeutender Preise (mit Ausnahme des Nobelpreises), dieser Mann, der seit den „Ehen in Philippsburg“ (1957) an vorderster literarischer Front steht, regt sich über Kritiken auf, die mitsamt ihren Urhebern zum Teil längst vergessen sind? »Wir haben Geld verdient, und dafür muss man sich anspucken lassen. Vom Angespucktwerden leben: mein Beruf.« Nun ist es wahr, dass Walser seit seiner Paulskirchenrede 1998 mit dem haltlosen Vorwurf leben muss, er sei ein Revisionist und Antisemit. Das ist Quark, und zwar breit getretener. Da kann man schon bitter werden.

Aber Walser ist ein himmelhoch jauchzender und zu Tode betrübter Übertreibungskünstler, dessen Vitalität bewundernswert bleibt. So gibt es auch in diesem Buch aparte Liebesgedichte (»Ich will die Zigarette sein in deinem Mund«) und poetische Miniaturen, die man nicht vergisst. »Kann man mehr tun als in der Sonne sitzen und hören, wie der Zug vorbeifährt und eine Stille zurücklässt, die es vorher nicht gegeben hat?« Nein, lieber Herr Walser, mehr kann man nicht tun.

Martin Walser: Spätdienst. Bekenntnis und Stimmung; Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2018





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